AG Syke, Beschluss vom 06.12.2018 – 23 F 27/18 SO

Amtsgericht
Syke
Beschluss

In der Kindschaftssache
betreffend die elterliche Sorge für … und …

Beteiligte:

1. …,
geboren am …
wohnhaft in der Obhut des Landkreises Diepholz,..

2. …,
geboren am …
wohnhaft …

3. R. R., Syke

Verfahrensbeistand

4. …,
geboren am …
wohnhaft …

5. …,
geboren am …
wohnhaft …

Verfahrensbevollmächtigte zu 4. und 5.:
Rechtsanwälte Beier & Beier, Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen

6. Landkreis Diepholz Fachdienst Jugend Team Vormundschaft, Nienburger Straße 23 c, 27232 Sulingen

Vormund –

7. Landkreis Diepholz Sozialraumteam Mitte-West – Fachdienst Jugend
Sankt-Annen-Straße 15, 27239 Twistringen

hat das Amtsgericht – Familiengericht – Syke durch die Richterin am Amtsgericht M. am 06.12.2018 beschlossen:

Die elterliche Sorge für das Kind …, geboren am …, wird unter Aufhebung der einstweiligen Anordnung vom 31.01.2018 und 08.02.2018 (23 F 17/18) wieder auf die Kindeseltern zurück übertragen.

Von familiengerichtlichen Maßnahmen nach den §§ 1666,1666a BGB wird abgesehen.

Es wird davon abgesehen, Gerichtskosten zu erheben. Die zur Durchführung des Verfahrens notwendigen Aufwendungen der Beteiligten trägt jeder Beteiligte selbst.

Der Verfahrenswert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

Das Kind … am … auf Empfehlung der …-Jugendklinik in … vom 23.01.2018 zunächst mit Zustimmung der Kindeseltern vom Jugendamt in Obhut genommen. Nachdem die Eltern ihre Zustimmung widerriefen, wurde ihnen mit Beschluss vom 31.01.2018 im Wege der einstweiligen Anordnung die elterliche Sorge entzogen. Nach Durchführung der Anhörung am 08.02.2018 wurde die einstweilige Anordnung mit Beschluss vom gleichen Tage aufrechterhalten. Gleichzeitig wurde von Amts das vorliegende Hauptsacheverfahren nach § 1666 BGB betreffend die elterliche Sorge für … und seinen jüngeren Bruder …, geboren am …, eingeleitet und ein Sachverständigengutachten zur Frage der Erziehungsfähigkeit der Kindeseltern und einer daraus ggf. resultierenden Kindeswohlgefährdung eingeholt.

Nach den §§1666, 1666a BGB hat das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet wird und die Eltern nicht gewillt‘ oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Nach § 1666a BGB sind Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann.

Nach den Ermittlungen des Familiengerichts, insbesondere dem Ergebnis des eingeholten Sachverständigengutachtens der Sachverständigen Dr. K. B. vom 28.11.2018, bestehen keine ausreichenden Gründe, um den Sorgerechtsentzug aufrechtzuerhalten oder familiengerichtliche Maßnahmen anzuordnen.

Hintergrund der Inobhutnahme war eine Stellungnahme der …-Jugendklinik (Bl. 29 – 32 d.A. 23 F 17/18), worin für … die Diagnosen Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F -90.0 ICD 10), Störung der sozialen Funktionen mit Problemen in
angemessener Kontaktgestaltung (F 94.8 ICD10), auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (80.2 ICD 10), eine Entwicklungsstörung der Grobmotorik (F 82.0), eine Anpassungsstörung mit vorwiegender Störung von anderen Gefühlen (F 43,23 ICD 10) sowie Neurodermitis gestellt und eine stationäre Jugendhilfemaßnahme in einer auf seine Bedürfnisse zugeschnittenen heilpädagogischen Einrichtung empfohlen wurde. Gleichzeitig wurde aufgrund der hochbelasteten familiären Situation eine Inobhutnahme angeraten. Der Vater habe in der Klinik berichtet, dass er bereits zweimal ausgerastet und auf das Kind losgegangen sei. Einmal habe er mit einem Stock nach dem unter einem Bett liegenden Kind geschlagen. Des Weiteren hatte die behandelnde Therapeutin von …, Frau …, am 07.02.2018 eine Stellungnahme abgegeben, wonach er wiederholt von Gewalt innerhalb der Familie berichtet habe. Der Vater habe die Mutter geschlagen und auch ihm einige Backpfeifen und „den Arsch voll“ gegeben.

Nach der Inobhutnahme lebte … in einer Bereitschaftspflegestelle. Zu seinen Eltern hatte er wöchentlich einen begleiteten Umgangskontakt. Aufgrund der Angaben zu Gewalt innerhalb der Familie wurde das Hauptsacheverfahren auch auf das jüngere Kind der Familie, …, erstreckt. Da weder das Jugendamt noch der gerichtlich bestellte Verfahrensbetstand Anhaltspunkte für eine akute Gefährdung von … sahen und das Kind, das die Kindeseltern auf Verlangen des Gerichts zum Anhörungstermin vom 12.06 2018 mitgebracht hatten, keinen ängstlichen, sondern aufgeweckten, altersgerecht entwickelten Eindruck machte, wurde von einstweiligen Maßnahmen betreffend‘ … abgesehen. Eine Kindesanhörung war angesichts des Alters von gerade einmal 2 Jahren nicht angezeigt.

Das Jugendamt, die Kindeseltern, der Verfahrensbeistand und die Sachverständige wurden angehört. Auf die Sitzungsniederschriften vom 13.06.2018, 29.08.2018, 14.09.2018 und 03.12.2018 wird Bezug genommen.

Die Sachverständige kommt in ihrem Gutachten zu der Einschätzung, dass hinsichtlich … weder eine Schädigung noch Gefährdung des Kindes vorliegt.

Bei … sieht sie eine Beeinträchtigung der Entwicklung, die jedoch nicht auf eine Schädigung durch die Eltern zurückzuführen ist und ebenfalls keine Gefährdung bei Rückkehr in den elterlichen Haushalt, jedoch einen Unterstützungsbedarf der Eltern bei der Erziehung aufgrund der Besonderheiten des Kindes. Sie empfiehlt dringend eine Vorstellung des Kindes in einem Autismuszentrum, den Besuch einer heilpädagogischen Tagesgruppe und die Einrichtung einer soziälpädagogischen Familienhilfe. Auch die von den Eltern angestrebte Familientherapie hält sie für sinnvoll. Nach ihrer Einschätzung sind die Kindeseltern willens und in der Lage, Hilfen anzunehmen. Aufgrund der Besonderheiten benötigten sie auch Hilfe bei der Umsetzung.

Ausweislich der Feststellungen der Sachverständigen haben sich im Rahmen der Begutachtung keine Hinweise auf kindeswohlgefährdende Verhaltensweisen der Eltern gezeigt. Dies macht sie unter anderem daran fest, dass sich … im Rahmen der Interaktionsbeobachtungen und begleiteten Umgangskontakte ebenso wie sein kleiner Bruder Nähe suchend und zugewandt verhalten habe. Ein Kind, das starke körperliche Gewalt durch seine Eltern erfahren habe, verhalte sich demgegenüber eher achtsam und vorsichtig in Bezug auf körperliche Kontaktangebote. … zeige keinerlei Furcht vor Liebesentzug. Vielmehr könne er sein großes Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Zugehörigkeit im Rahmen einer Fremdunterbringung nicht stillen. Zu seinen Eltern und zum Bruder bestehe eine enge Bindung, Auffällig war jedoch auch während des Aufenthalts in der Bereitschaftspflege, dass … ein sehr starkes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit hat und ggf. dramatische Geschichten erzählt, um diese Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Sachverständige hält insoweit eine therapeutische Abklärung der Ursachen dieser Verhaltensweisen für erforderlich. Die Angaben von … zu erlebter häuslicher und erzieherischer Gewalt stuft sie als nicht erlebnisbegründet ein.

Auch ein sehr ausgeprägtes Bedürfnis nach festen Strukturen, das weit über geregelte Essens- und Schlafenszeiten hinausgeht, wurde im Rahmen der Bereitschaftspflege deutlich.

Der Verfahrensbeistand hat sich der Einschätzung der Sachverständigen angeschlossen. Auch ihm gegenüber habe … zunächst glaubhaft davon erzählt, dass er in der Familie Gewalt erfahren habe, sich dann aber ebenso glaubhaft davon distanziert. … wolle weiterhin gerne nach Hause.

Das Jugendamt hegt nach eigenen Angaben weiterhin erhebliche Restzweifel, ob … nicht doch Gewalt durch seine Eltern erfahren habe, geht jedoch davon aus, dass auch eine anderweitige Begutachtung nicht zu einer anderen Einschätzung führen würde, weil es keine dokumentierten körperlichen Verletzungen gegeben habe.

Die Frage der Erziehungsfähigkeit sieht das Jugendamt als noch nicht zufriedenstellend beantwortet an, Fragen an die Sachverständige im Rahmen der Anhörung bestanden jedoch nicht.

Das Gericht schließt sich den Einschätzungen der Sachverständigen nach eigener, kritischer Würdigung an. Die Sachverständige hat ihre Vorgehensweise und die Grundlagen ihrer Einschätzung nachvollziehbar dargelegt. Zwar hat auch sie die Ursachen von … Berichten über Gewalt und Katastrophen und seinem ausgeprägten Aufmerksamkeitsbedürfnis nicht abschließend benennen können aber sehr wohl die Gründe, warum sie seine Schilderungen für nicht erlebnisbasiert hält. Es erscheint auch plausibel, dass bei einem Kind, welches ohnehin ein großes Aufmerksamkeitsbedürfnis hat, die „Entthronung“ durch die Geburt des kleinen Bruders und den Verlust der ungeteilten Aufmerksamkeit der Eltern dazu geführt haben können, dass er mit Hilfe von Konfabulationen versucht, Aufmerksamkeit zu erlangen.

Woraus sich die verbliebenen Restzweifel des Jugendamts konkret speisen und unter welchen Gesichtspunkten die Beantwortung der Frage der Erziehungsfähigkeit noch nicht zufriedenstellend ist, wurde durch das Jugendamt nicht dargelegt.

Welche Reaktionsmuster der Eltern, insbesondere des Kindesvaters, in der Vergangenheit zu Schwierigkeiten in der Kooperation mit dem Jugendamt und dem Helfersystem geführt haben, hat die Sachverständige nachvollziehbar beschrieben und eine Bearbeitung der Problematik im Rahmen der Familientherapie als Lösung aufgezeigt. Sie hat auch die bei den Eltern vorhandenen Ressourcen beschrieben. Die Schilderungen fügen sich in den während der insgesamt fünf, zum Teil mehrstündigen gerichtlichen Anhörurigstermine im Rahmen der diversen Umgangs- und Sorgerechtsverfahren (23 F 17/18, 23 F 27/18 und 23 F 48/18) gewonnenen persönlichen Eindruck des Gerichts von den Kindeseltern ein.

Die Kindesmutter konnte in der letzten Anhörung konkrete Angaben dazu machen, wo und mit welchem Erfolg die Eltern bereits Schritte unternommen haben, um eine Familientherapie beginnen zu können, Beide Eltern haben auch Bereitschaft signalisiert, … baldmöglichst in einem Autismuszentrum vorzustellen. In der Vergangenheit haben sie bereits gezeigt, dass sie Willens und in der Lage waren, diverse Diagnostiken und Therapien für … in die Wege zu leiten und durchzuhalten. Sie werden jedoch weiterhin Entlastung und Unterstützung benötigen, weil – wie sich auch in der Bereitschaftspflege gezeigt hat – … Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Nähe und Distanz besondere Anforderungen an Geduld und Belastbarkeit der Betreuungspersonen stellen, sei es im Rahmen der eigentlichen Betreuung, sei es im Rahmen der Bearbeitung von Problemen, wenn er im sonstigen schulischen und sozialen Umfeld wieder einmal „angeeckt“ ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs, 1 FamFG.

Die Festsetzung des Verfahrenswertes beruht auf § 45 FarnGKG. Die Erhöhung des Verfahrenswertes ist wegen des Umfangs des Verfahrens angezeigt, da die Einholung einer schriftlichen sachverständigen Stellungnahme geboten war und die Verfahrensbeteiligten in mehreren Terminen angehört wurden (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 11,02.2011, 10 WF
399/10, Nds, Rpfl. 2011, 126f.).

Es wird darauf hingewiesen, dass das Gericht die Entscheidung nach § 166 Abs. 3 FamFG in einem angemessenen Zeitabstand, in der Regel drei Monate, überprüfen soll.

Rechtsbehelfsbelehrung

Diese Entscheidung kann mit der Beschwerde angefochten werden. Sie ist innerhalb eines Monats bei dem Amtsgericht Syke, Hauptstraße 5 A, 28857 Syke, einzulegen. Die Frist beginnt mit der schriftlichen Bekanntgabe der Entscheidung.

Beschwerdeberechtigt ist, wer durch die Entscheidung in seinen Rechten beeinträchtigt ist. Darüber hinaus können Behörden Beschwerde einlegen, soweit dies gesetzlich bestimmt ist. Ein Kind, für das die elterliche Sorge besteht oder ein unter Vormundschaft stehendes Mündel kann selbstständig ohne Mitwirkung seines gesetzlichen Vertreters Beschwerde einlegen, wenn es über 14 Jahre alt und nicht geschäftsunfähig ist.

Die Beschwerde wird durch Einreichung einer Beschwerdeschrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle des genannten Gerichts eingelegt. Sie kann auch zur Niederschrift der Geschäftsstelle eines jeden Amtsgerichts erklärt werden, wobei es für die Einhaltung der Frist auf den Eingang bei dem genannten Gericht ankommt. Sie ist von dem Beschwerdeführer oder seinem Bevollmächtigten zu unterzeichnen. Die Beschwerde muss die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses sowie die Erklärung enthalten, dass Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Soll die Entscheidung nur zum Teil angefochten werden, so ist der Umfang der Anfechtung zu bezeichnen.

Die Beschwerde soll begründet werden.

M.
Richterin am Amtsgericht