OLG Hamm, Beschluss vom 16.08.2016 – 2 WF 46/16

Oberlandesgericht Hamm
Beschluss

Leitsätze:

1.
Eine hinreichende Aussicht auf Erfolg für die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe (§ 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 ZPO) in einem vom Amtsermittlungsgrundsatz (§ 26 FamFG) beherrschten Sorgerechtsverfahren ist bereits dann gegeben, wenn das Familiengericht auf Grund des eingeleiteten Verfahrens den Sachverhalt zu ermitteln hat, ggfs. eine Regelung treffen muss und sich nicht darauf beschränken kann, den Antrag ohne Weiteres, also ohne jede Ermittlung und ohne jede Anhörung der Beteiligten, zurückzuweisen

2.

Eine Entscheidung des Familiengerichts, die den Antrag der Kindeseltern auf Rückübertragung der elterlichen Sorge ohne ausreichende Darlegung, weshalb das Kindeswohl im Falle der Rückkehr des Kindes in den mütterlichen Haushalt gefährdet ist, zurückweist, wird den strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht gerecht (im Anschluss an: BVerfG, FamRZ 2016, 439ff, bei juris Langtext Rn 13ff m.w.N.).

3.

Die Erziehungseignung von nicht mehr sorgerechtsberechtigten Kindeseltern und eine mögliche Gefährdung für das Wohl des Kindes bei dessen Herausnahme aus der Pflegefamilie können regelmäßig nicht schon im Verfahren auf Prüfung der Verfahrenskostenhilfe abschließend beurteilt werden.

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde der Kindeseltern wird der die Verfahrenskostenhilfe versagende Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Gladbeck abgeändert:

Den Kindeseltern wird für das Abänderungsverfahren betreffend die Rückübertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts und des Rechts der Gesundheitsfürsorge auf die Kindeseltern sowie für ihr Herausgabebegehren betreffend das Kind B-D , geboren am ##.##.2010, ab Antragstellung Verfahrenskostenhilfe bewilligt.

Ihnen wird zur vorläufig unentgeltlichen Wahrnehmung ihrer Rechte in erster Instanz Rechtsanwalt W aus Gladbeck beigeordnet.

Gründe:

I.

Die Kindeseltern sind die Eltern der am 29.07.2010 B-D. Die elterliche Sorge für das Kind stand zunächst der Kindesmutter alleine zu. Kurz nach der Geburt wechselte die Kindesmutter mit dem Kind in eine Mutter-Kind-Einrichtung. Mit dem Kindesvater hat das Kind zu keinem Zeitpunkt in einem gemeinsamen Haushalt zusammengelebt. Am 04.04.2011 nahm das Jugendamt der Stadt H das Kind in Obhut. Seitdem lebt das Kind in einer Pflegefamilie. Mit am 01.12.2011 erlassenen Beschluss übertrug das Amtsgericht – Familiengericht – Gladbeck das Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht zur Gesundheitsfürsorge für das Kind auf das Jugendamt der Stadt H als Ergänzungspfleger. Im Übrigen verblieb es bei der alleinigen elterlichen Sorge der Kindesmutter (AZ: AG Gladbeck, 10 F 136/11). Mit am 20.03.2012 erlassenen Beschluss hat das OLG Hamm den Antrag des Kindesvaters auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das von ihm beabsichtigte Beschwerdeverfahren zurückgewiesen.

Die Kindeseltern sind zudem die Eltern des am ##.##.2013 geborenen Kindes Q-K. Dieses Kind lebt in ihrem Haushalt. Die zwischenzeitlich in der Familie der Kindeseltern eingesetzte sozialpädagogische Familienhilfe hat ihre Tätigkeit mittlerweile beendet.

Die Kindeseltern begehren die Aufhebung der Ergänzungspflegschaft und die Rückführung des Kindes B-D in ihren Haushalt.

Das Amtsgericht – Familiengericht – Gladbeck hat den Antrag der Kindeseltern auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe nach Beteiligung des Jugendamtes der Stadt H zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt:

Die Voraussetzungen für eine Abänderung der Sorgerechtsentscheidung seien nicht erfüllt. Das Kind habe mit dem Kindesvater überhaupt nicht und mit der Kindesmutter nur wenige Monate zusammengelebt. Seit fast fünf Jahren wachse es in einer Pflegefamilie auf. Unter Berücksichtigung des Berichts des Jugendamtes und der Berichte des Ergänzungspflegers in der Pflegschaftsakte sei es den Kindeseltern zu keinem Zeitpunkt gelungen, kontinuierlich im Rahmen von Umgangskontakten eine wie auch immer geartete Bindung zu dem Kind aufzubauen. Die Bemühungen des Jugendamtes hätten nur zu ganz sporadischen Umgangskontakten des Kindes mit der Kindesmutter geführt. Es sei deshalb nicht ansatzweise ersichtlich, dass das Kind nunmehr trotz fehlender Bindung ohne weiteres in den Haushalt der Kindeseltern gegeben werden könne. Dabei sei unerheblich, dass die Kindeseltern nunmehr abstrakt erziehungsgeeignet seien. Das Kind habe eine intensive und enge Bindung zu seinen Pflegeeltern und der gesamten Familie der Pflegeeltern entwickelt. Aus Gründen des Kindeswohls sei es nicht angezeigt, das Kind aus dem vorhandenen Familienverbund zu entreißen und es zu völlig unbekannten Personen zu geben. Absolute Voraussetzung für eine solche Maßnahme sei, dass zunächst im Rahmen kontinuierlicher Umgangskontakte überhaupt eine Bindung zwischen den Kindeseltern und dem Kind aufgebaut werde. Insofern sollten die Kindeseltern im Rahmen intensiver Bemühungen zunächst die Nachhaltigkeit ihres Bestrebens nach einem Bindungsaufbau und ihre Kooperation mit dem Jugendamt unter Beweis stellen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes und dessen rechtlicher Bewertung durch das Familiengericht wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.

Gegen den genannten Beschluss wenden sich die Kindeseltern mit ihrer sofortigen Beschwerde, der das Familiengericht nicht abgeholfen hat. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird u.a. auf den Schriftsatz der Kindeseltern vom 04.03.2016 Bezug genommen. Das Jugendamt der Stadt H und die mittlerweile anwaltlich vertretenen Pflegeeltern haben im Beschwerdeverfahren keine Stellungnahme abgegeben.

II.

Die gem. den §§ 76 Abs. 2 FamFG, 127 Abs. 2, 567 ff ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde der Kindeseltern ist begründet. Zu Unrecht hat das Familiengericht dem Begehren der Kindeseltern die Erfolgsaussichten abgesprochen (§§ 76 Abs. 1 FamFG, 114 ZPO):

1.

Der Grundsatz der Erforderlichkeit einer hinreichenden Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung (vgl. § 114 ZPO) gilt in Familiensachen wie Sorgerechts- und Umgangsrechtsverfahren nicht in gleicher Weise wie in Rechtsstreitigkeiten, die sich nach der ZPO richten (vgl. OLG Hamm, FamRZ 2008, 420).

Grundsätzlich gilt vielmehr, dass eine hinreichende Aussicht auf Erfolg für die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe (§ 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 ZPO) in einem vom Amtsermittlungsgrundsatz (§ 26 FamFG) beherrschten Sorgerechtsverfahren bereits dann gegeben ist, wenn das Familiengericht auf Grund des eingeleiteten Verfahrens den Sachverhalt zu ermitteln hat, ggfs. eine Regelung treffen muss und sich nicht darauf beschränken kann, den Antrag ohne Weiteres, also ohne jede Ermittlung und ohne jede Anhörung der Beteiligten, zurückzuweisen (vgl. OLG Saarbrücken, FamRZ 2012, 1157, bei juris Langtext Rn 2; OLG Karlsruhe, FamRZ 2011, 1528, m.w.N.; OLG Hamm, FamRZ 2008, 420; OLG Nürnberg, FamRZ 2002, 109f: zum Umgangsverfahren). Es kommt hinzu, dass den Beteiligten in einem Sorgerechtsverfahren teilweise nicht die volle Dispositionsbefugnis über den Verfahrensgegenstand zusteht und sie eine rechtlich verbindliche Regelung nicht ohne eine gerichtliche Entscheidung oder zumindest ohne eine gerichtliche Bestätigung treffen können. Des Weiteren ergeben sich Einschränkungen des genannten Grundsatzes auch daraus, dass die Anträge der Beteiligten in diesen Verfahren lediglich als Anregungen an das Gericht zu verstehen sind, die zwar das Verfahren einleiten, das Gericht jedoch nicht binden können, da es den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen ermitteln muss und sodann eine Entscheidung zu treffen hat, die zwar die Interessen der Kindeseltern als Verfahrensbeteiligte berücksichtigt, jedoch in erster Linie dem Kindeswohl verpflichtet ist (vgl. zum Vorstehenden: OLG Hamm, FamRZ 2008, 420).

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts, ohne die die Elternverantwortung nicht ausgeübt werden kann. Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt diesen Eingriff nur unter strengen Voraussetzungen. Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern ist nach Art. 6 Abs. 3 GG allein zu dem Zweck zulässig, das Kind vor nachhaltigen Gefährdungen zu schützen und darf nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Ihren einfachrechtlichen Ausdruck haben diese Anforderungen in den §§ 1666 Abs. 1, 1666a, 1696 Abs. 2 BGB gefunden. Dabei berechtigen nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramts die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen. Es gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Das Grundgesetz hat den Eltern die primäre Entscheidungszuständigkeit bezüglich der Förderung ihrer Kinder zugewiesen. Das beruht auf der Erwägung, dass die spezifisch elterliche Zuwendung dem Wohl der Kinder grundsätzlich am besten dient. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern und deren Aufrechterhaltung zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (vgl. zum Vorstehenden nur: BVerfG, FamRZ 2016, 439ff, bei juris Langtext Rn 12 m.w.N.). Eine Entscheidung des Familiengerichts, die den Antrag der Kindeseltern auf Rückübertragung der elterlichen Sorge ohne ausreichende Darlegung, weshalb das Kindeswohl im Falle der Rückkehr des Kindes in den mütterlichen Haushalt gefährdet ist, zurückweist, wird den vorstehenden strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht gerecht (vgl. BVerfG, FamRZ 2016, 439ff, bei juris Langtext Rn 13ff m.w.N.).

2.

Danach hat die Rechtsverfolgung der Kindeseltern insbesondere unter Berücksichtigung der ständigen Rechtsprechung des BVerfG hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Unter Berücksichtigung der einleitend genannten Rechtsprechung war und ist das Familiengericht gehalten, den Sachverhalt von Amts wegen umfassend zu ermitteln. Sowohl die Erziehungseignung der Kindeseltern als auch die mögliche Gefährdung für das Wohl des Kindes bei dessen Herausnahme aus der Pflegefamilie können anhand des derzeitigen Sach- und Streitstandes nicht abschließend beurteilt werden. Die Zurückweisung des Begehrens im VKH-Verfahren nach Anhörung lediglich des Jugendamtes der Stadt H ohne weitere Ermittlungen wird der Prüfung der Erfolgsaussichten und dem dabei geltenden großzügigeren Maßstab als in einem Verfahren nach der ZPO nicht gerecht. Zumindest die persönliche Anhörung der Beteiligten, einschließlich des Kindes und der Pflegeeltern, ist vorliegend geboten. Auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens kann nach dem derzeitigen Vorbringen der Beteiligten nicht ausgeschlossen werden.

Den erstinstanzlich geäußerten Bedenken des Jugendamtes kann nicht schon im VKH-Verfahren entscheidend und abschließend gefolgt werden.

Das gilt zunächst für die Erziehungsfähigkeit der Kindeseltern. Zu Recht haben diese darauf verwiesen, dass sie ihr am ##.##.2013 geborenes Kind bislang beanstandungsfrei in ihrem Haushalt betreut und versorgt haben. Die zunächst notwendige sozialpädagogische Familienhilfe ist mittlerweile beendet worden. Ob die Kindeseltern auch in der Lage sein werden, die besonderen Bedürfnisse des Kindes B-D zu befriedigen, muss der Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten werden.

Gleiches gilt auch für die Frage, ob die Herausnahme des Kindes aus der jetzigen Pflegefamilie – wie das Jugendamt der Stadt H meint – für das Kind traumatisierende Folgen und eine Gefährdung der zukünftigen Persönlichkeitsentwicklung in hohem Maße bedeuten würde. Diese Frage kann nicht schon im Verfahren auf Prüfung der Verfahrenskostenhilfe abschließend entschieden werden.

3.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst (vgl. §§ 76 Abs. 2 FamFG, 127 Abs. 4 ZPO).

Vorinstanz:
Amtsgericht Gladbeck, 32 F 328/15

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