SG Bremen, Beschluss vom 14.11.2014 – S 34 AS 2038/14 ER

Sanktionsbescheid einer unter 25- jährigen, schwangeren Hilfebedürftigen ist rechtswidrig, weil es an einer fehlerfreien Verkürzungsentscheidung nach § 31b Abs. 1 Satz 4 SGB 2 fehlt.

Leitsätze

1. Nach § 31 b Abs 1 Satz 4 Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) kann der Träger bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, die Minderung des Auszahlungsanspruchs in Höhe der Bedarfe nach den §§ 20 und 21 unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auf sechs Wochen verkürzen.

2. Die damit eingeräumte Ermessensausübung muss dabei den gesetzlichen Anforderungen an eine Ermessensentscheidung genügen und insbesondere nachvollziehbar sein. Zu den zu berücksichtigenden Umständen gehören unter anderem Art und Umstände des Pflichtenverstoßes, der Grad des Verschuldens, Alter und Einsichtsfähigkeit des Leistungsberechtigten, das Verhalten nach dem Pflichtenverstoß, die Wirkungen, die bei unverkürzter Sanktionsdauer auf die Integrationsfähigkeit und —bereitschaft des Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu erwarten sind, sowie, ob es sich um einen wiederholten Pflichtenverstoß handelt. Die Ermessensentscheidung hat von Amts wegen zu erfolgen und ist grundsätzlich mit der Feststellung der Minderung zu verbinden.

3. Die Antragstellerin ist noch keine 25 Jahre alt, so dass der Antragsteller in Anwendung der Norm entsprechendes Ermessen auszuüben hatte. Dies hat er jedoch nicht einzelfallbezogen getan, so dass hier ein weitestgehender Ermessensausfall vorliegt. Denn die bloße Behauptung, eine möglichen Verkürzung des Sanktionszeitraumes auf sechs Wochen sei „nach Abwägung der in Ihrem Fall vorliegenden Umstände mit den Interessen der Allgemeinheit nicht gerechtfertigt’ lässt keinerlei einzelfallbezogene Ermessensausübung erkennen, was umso schwerer wiegt, als insbesondere in Form der Schwangerschaft der Antragstellerin ein besonderer Lebensumstand vorliegt, dessen Berücksichtigung sich geradezu aufdrängen muss.

SOZIALGERICHT BREMEN
BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

J. V., Bremen,
Antragstellerin,

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte Beier & Beier, Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen, Az.: – F/2014/062 (EA) –

gegen

Jobcenter Bremen, vertreten durch den Geschäftsführer, Doventorsteinweg 48 – 52, 28195 Bremen, Az.:  -GRÜNDE
Antragsgegner,

hat die 34. Kammer des Sozialgerichts Bremen am 14. November 2014 durch ihren Vorsitzenden, Richter am Sozialgericht Dr. S., beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 06.10.2014 gegen den Sanktionsbescheid des Antragsgegners vom 24.09.2014 wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Der Antragstellerin wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Beier als Prozessbevollmächtigter beigeordnet

Gründe:

I.

Die 1994 geborene, schwangere Antragstellerin begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen einen Sanktionsbescheid.

Der Antragsgegner stellte mit Bescheid vom 24.09.2014 einen vollständigen Wegfall des Arbeitslosengeldes II (ALG II) der Antragstellerin im Zeitraum 01.10.2014 bis 31.12.2014 fest. Hinsichtlich einer möglichen Verkürzung des Sanktionszeitraumes auf sechs Wochen führte er dabei lediglich aus, eine solche sei „nach Abwägung der in Ihrem Fall vorliegenden Umstände mit den Interessen der Allgemeinheit nicht gerechtfertigt„.

Gegen diesen Bescheid hat die Antragstellerin unter dem 06,10.2014 Widerspruch erhoben.

Die Antragstellerin hat am 23.10.2014 beim erkennenden Gericht um entsprechenden Eilrechtsschutz nachgesucht und beantragt,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 06.10.2014 gegen den Sanktionsbescheid des Antragsgegners vom 24.09,2014 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den sonstigen Inhalt der Verfahrensakten Bezug genommen, die der gerichtlichen Entscheidungsfindung zugrunde gelegen haben.

II.

Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist begründet.

Nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 86a Abs. 1 S. 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt jedoch in bestimmten, gesetzlich angeordneten Fällen, (vgl. etwa § 86a Abs. 2 SGG). Das Gericht entscheidet in den Fällen des § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG aufgrund einer Interessenabwägung nach pflichtgemäßem Ermessen. Dabei sind im Rahmen einer summarischen Prüfung das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug und das private Interesse an der Aussetzung der sofortigen Vollziehung und die Sach- und Rechtslage in der Hauptsache zu berücksichtigen. Bei der gebotenen umfassenden Abwägung zwischen Vollziehungs- und Aussetzungsinteresse kommt den Erfolgsaussichten in der Hauptsache wesentliche Bedeutung zu. Ist der im Hauptsacheverfahren angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig, überwiegt das Aussetzungsinteresse und dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist stattzugeben. Lässt sich dagegen ohne Weiteres erkennen, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig ist, ist ein überwiegendes Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit anzunehmen; das Vollzugsinteresse überwiegt und der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist abzulehnen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, ist im Rahmen der dann erforderlichen Abwägung der konkret betroffenen Interessen (außer im Fall des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG). grundsätzlich vom gesetzlich statuierten Vorrang des Vollziehungsinteresses auszugehen, wobei in Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG zusätzlich die Wertungen des § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG zu berücksichtigen sind, wonach insbesondere auch dann eine Aussetzung der sofortigen Vollziehung in Betracht kommt, wenn ansonsten eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte bei der Vollziehung eintreten würde. Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes ist nicht erforderlich. (Vgl. insgesamt Keller in Meyer-Ladewig, § 86b SGG, Rn. 12 ff.).

Vorliegend ist der im Hauptsacheverfahren angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig, so dass die aufschiebende Wirkung anzuordnen war.

Nach § 31 b Abs 1 Satz 4 Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) kann der Träger bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, die Minderung des Auszahlungsanspruchs in Höhe der Bedarfe nach den §§ 20 und 21 unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auf sechs Wochen verkürzen.

Die damit eingeräumte Ermessensausübung muss dabei den gesetzlichen Anforderungen an eine Ermessensentscheidung genügen und insbesondere nachvollziehbar sein. Zu den zu berücksichtigenden Umständen gehören unter anderem Art und Umstände des Pflichtenverstoßes, der Grad des Verschuldens, Alter und Einsichtsfähigkeit des Leistungsberechtigten, das Verhalten nach dem Pflichtenverstoß, die Wirkungen, die bei unverkürzter Sanktionsdauer auf die Integrationsfähigkeit und —bereitschaft des Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu erwarten sind, sowie, ob es sich um einen wiederholten Pflichtenverstoß handelt. Die Ermessensentscheidung hat von Amts wegen zu erfolgen und ist grundsätzlich mit der Feststellung der Minderung zu verbinden. (insgesamt: Eicher/Spellbrink/S. Knickrehm/Hahn SGB II § 31b Rn 19 f.)

Die Antragstellerin ist noch keine 25 Jahre alt, so dass der Antragsteller in Anwendung der Norm entsprechendes Ermessen auszuüben hatte. Dies hat er jedoch nicht einzelfallbezogen getan, so dass hier ein weitestgehender Ermessensausfall vorliegt. Denn die bloße Behauptung, eine möglichen Verkürzung des Sanktionszeitraumes auf sechs Wochen sei „nach Abwägung der in Ihrem Fall vorliegenden Umstände mit den Interessen der Allgemeinheit nicht gerechtfertigt‘ lässt keinerlei einzelfallbezogene Ermessensausübung erkennen, was umso schwerer wiegt, als insbesondere in Form der Schwangerschaft der Antragstellerin ein besonderer Lebensumstand vorliegt, dessen Berücksichtigung sich geradezu aufdrängen muss.

Auf die weiteren, antragstellerseitig aufgeworfenen Probleme kommt es danach bereits nicht mehr an, ebenso wenig wie auf die erheblichen, grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen zu „verschärften“ Sanktionen für Personen unter 25 Jahren (vgl. dazu nur Eicher/Spellbrink/S. Knickrehm/Hahn SGB II § 31a Rn. 25 m.w.N,).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

RECHTSMITTELBELEHRUNG

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde statthaft. Sie ist binnen eines Monats nach Zustellung beim Sozialgericht Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Straße 1, 29223 Celle oder der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

gez. Dr. S.
Richter am Sozialgericht

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