AG Gießen, Beschluss vom 28. August 2013 · Az. 248 F 2478/12 SO

Tenor

Die einstweilige Anordnung vom 28.11.2012 des Amtsgerichts – Familiengerichts – Gießen (Az.: 248 F 2508/12) wird aufgehoben. Es verbleibt bei der gemeinsamen elterlichen Sorge der Kindeseltern.

Den Kindeseltern wird aufgegeben, umgehend für die kinderärztliche und therapeutische Versorgung des Kindes in erreichbarer Nähe ihres Wohnortes Sorge zu tragen.

Den Kindeseltern wird weiter aufgegeben, die aus Sicht des Jugendamtes unter Berücksichtigung der Empfehlungen des Sachverständigen „…“ in seinem Gutachten vom 31.5.2013 erforderlichen Anträge auf Hilfe zur Erziehung zu stellen.

Der Antrag der Pflegeltern auf Anordnung des Verbleibs des Kindes in der Pflegefamilie wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten werden durch die Beteiligten nicht erstattet.

Der Verfahrenswert wird auf 5.000,– € festgesetzt.

Gründe

I.

„…“, geboren am 03.02.2011, ist das gemeinsame Kind von „…“ und „…“. Die Kindeseltern sind nicht verheiratet.Der Kindesvater hat die Vaterschaft mit Urkunde des Jugendamtes des „…“ vom 10.2.2011 (UR-Nr. 025/2011.4) anerkannt. Mit Urkunde des Jugendamtes des „…“ vom gleichen Tag (UR-Nr. 027/2011.4) gaben die Eltern eine Sorgeerklärung ab.„…“ wurde in der 29. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von 745 g geboren. Aufgrund der Frühgeburtlichkeit verbrachte er seine ersten 6 Lebensmonate in stationärer Behandlung. Auch nach der Entlassung aus der Klinik zeigten sich erhebliche Probleme des Kindes bei der Nahrungsaufnahme und Gewichtszunahme. In der elterlichen Familie wurden daher seitens der Klinik ein Kinderpflegedienst und eine Nachsorgehebamme installiert, weiterer Unterstützungsbedarf wurde zum damaligen Zeitpunkt seitens des Jugendamtes nicht gesehen. Am 24.2.2012 kam es zu einer erneuten stationären Aufnahme des Kindes in der Uniklinik „…“ aufgrund seines sehr niedrigen Gewichtes zum Zwecke der Evulation, Diagnostik und Therapie. Am 1.3.2012 wurde das zuständige Jugendamt seitens der Klinik darüber informiert, dass die Kindesmutter jegliche weitere Behandlung des Kindes ablehne. Entgegen der zunächst ablehnenden Haltung der Kindesmutter wurde der stationäre Aufenthalt des Kindes jedoch zunächst fortgesetzt. Im Rahmen des stationären Aufenthaltes wurde bei „…“ eine Gedeihstörung sowie eine sensomotorische Entwicklungsverzögerung festgestellt. In der Zeit vom 7.3. bis 21.3.2012 befand sich „…“ bei den Kindeseltern, da er aufgrund einer Infektion eine Gefährdung für die anderen Kinder auf der Station darstellte. Das Jugendamt installierte mit Wirkung vom 15.3.2012 eine Hilfe zur Erziehung,welche im Umfang von 8 Fachleistungsstunden pro Woche in Kombination von einer Hebamme und einer pädagogischen Fachkraft durchgeführt wurde. Am 22.3.2012 und wiederum am 23.5.2012 kam es zu erneuten kurzfristigen stationären Aufnahmen des Kindes. Am 24.5.2012 wurde „…“ wieder in die Obhut der Kindeseltern entlassen, welche eine Hilfe zur Erziehung gem. § 33 SGB VIII beantragten. Dementsprechend kam es am 4.6.2012 zu einer Aufnahme des Kindes in einer Bereitschaftspflegefamilie. Da sich der Gesundheitszustand des Jungen zunehmend verschlechterte, wurde „…“ am 15.6.2012 stationär im Clementinehospital in „…“ aufgenommen, gemeinsam mit seiner Mutter. Im Rahmen dieses stationären Aufenthaltes gelang es,„…“ von der zuvor eingesetzten Ernährungssonde zu entwöhnen. Am 16.8.2012 wurde „…“ in den elterlichen Haushalt entlassen, wobei ab dem 20.8.2012 wiederum pädagogische Fachkräfte in der Familie installiert wurden. Am 5.11.2012 kam es zu einer erneuten stationären Aufnahme von „…“ in der Uniklinik in „…“aufgrund seines weiterhin geringen Gewichts. Seitens der behandelnden Ärzte wurde das Untergewicht des Kindes auf Erziehungsdefizite der Kindesmutter zurückgeführt. Mit den Kindeseltern wurde die Perspektive einer Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie erörtert. Am 13.11.2012 stellten die Kindeseltern einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung in vollstationärer Form bei einer Pflegefamilie für den Erhebungszeitraum eines Erziehungsfähigkeitsgutachtens. Mit Schreiben vom 20.11.2012 leitete das Jugendamt durch Anrufung des Familiengerichts gem. § 8a Satz 2 SGB VIII das vorliegende Hauptsacheverfahren ein.

Ihren Antrag auf Hilfe zur Erziehung in vollstationärer Form zogen die Kindeseltern am 27.11.2012 zurück. Daraufhin nahm das zuständige Jugendamt das Kind in Obhut und brachte es in der Pflegefamilie Sturm unter. Mit Schreiben vom 28.11.2012 beantragte das Jugendamt beim erkennenden Gericht den teilweisen Entzug der elterlichen Sorge im Wege der einstweiligen Anordnung (Az.: 248 F2508/12). Mit Beschluss des Gerichts vom gleichen Tag wurde den Kindeseltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht zur Gesundheitssorge für „…“ entzogen und dem Jugendamt des „…“ als Pfleger übertragen.

Am 04.12.2012 wurde seitens des Instituts für Humangenetik des Universitätsklinikums Essen bei „…“ die Diagnose eines sog. Silver-Russel-Syndroms gestellt.

Nach mündlicher Erörterung im Rahmen des vorliegenden Hauptsacheverfahrens am 24.1.2013 veranlasste das Gericht mit Beschluss vom 25.1.2013 die Einholung eines familienpsychologischen Sachverständigengutachtens zur Frage der Erziehungsfähigkeit der Kindeseltern. Zum Sachverständigen wurde „…“bestellt. Dieser erstattete das Gutachten am 31.5.2013 (Bl. 47 ff d.A.). Am 11.7.2013 wurde das Ergebnis des Sachverständigengutachtens mit sämtlichen Verfahrensbeteiligten erörtert und die Pflegeeltern angehört. Im Rahmen der Erörterung ergab sich die Notwendigkeit einer persönlichen Anhörung des Sachverständigen „…“. Diese fand in einem weiteren Termin zur Erörterung am 25.7.2013 statt. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift vom 25.7.2013 (Bl. 217 ff d.A.) Bezug genommen. Mit Schreiben vom 17.7.2013 meldete sich Rechtsanwalt „…“ für die Pflegeeltern. Mit Schreiben des Gerichts vom 19.7.2013 wurden die übrigen Verfahrensbeteiligten darauf hingewiesen, dass die Pflegeeltern als Beteiligte gemäß §§161 Abs. 1, 7 Abs. 3 FamFG hinzugezogen werden. Die mündliche Erörterung vom 25.7.2013 fand dementsprechend in Anwesenheit der Pflegeeltern und ihres anwaltlichen Vertreters statt.

Die Pflegeeltern beantragen,

den Antrag auf Herausgabe des Kindes „…“,geb. am 3.2.2011, abzulehnen und den Verbleib des Kindes „…“ bei den Pflegeeltern anzuordnen.

Die Kindeseltern beantragen,

diese Anträge zurückzuweisen.

Sämtlichen Beteiligten wurde im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 25.7.2013 nachgelassen, ergänzend schriftsätzlich bis zum 15.8.2013 Stellung zu nehmen.

II.

Der Beschluss vom 28.11.2012, mit welchem den Kindeseltern Teile der elterlichen Sorge im Wege der einstweiligen Anordnung entzogen wurden, war aufzuheben. Eingriffe in die elterliche Sorge sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht gerechtfertigt, da einer möglichen Gefährdung des Wohls des Kindes im elterlichen Haushalt durch andere öffentliche Hilfen begegnet werden kann. Ein (teilweiser)Entzug der elterlichen Sorge, noch dazu in Verbindung mit einer Fremdunterbringung des Kindes ist nach Einschätzung des Gerichts zum jetzigen Zeitpunkt als unverhältnismäßig zu erachten.

Das Gericht verkennt nicht, dass aufgrund zahlreicher Faktoren und insbesondere auch vor dem Hintergrund der vielfältigen und schwerwiegenden Erkrankungen des Kindes eine Gefährdung des Kindeswohls im elterlichen Haushalt nicht auszuschließen ist. Dieser Kindeswohlgefährdung kann nach dem Ergebnis der gerichtlichen Ermittlungen aus jetziger Sicht jedoch durch andere öffentliche Hilfen begegnet werden, sodass ein teilweiser Entzug der elterlichen Sorge nicht zulässig ist. Gem. § 1666 a BGB sind Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, nur dann zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Wenn Eltern wie hier das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen und damit sogleich die Aufrechterhaltung der Trennung der Kinder von ihnen gesichert werden soll, darf dies nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen (vgl.Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8.3.2012, Az.: 1 BvR206/12, zit. nach juris). Dieser Grundsatz gebietet es, dass Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist. Der Staat muss dabei nach Möglichkeit versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen (vgl.BVerfG aaO).

Der Sachverständige „…“ hat in seinem ausführlich begründeten Gutachten vom 31.5.2013 bei dem Kindesvater keine wesentlichen Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit festgestellt. Eine Einschränkung der Erziehungskompetenz hat er bei dem Kindesvater allenfalls darin gesehen, dass er sich innerhalb der Elternbeziehung, zumindest bezogen auf das Kind, möglicherweise etwas mehr zurückzunehmen scheine, als dies für „…“ hilfreich sei.

Bei der Kindesmutter hat der Sachverständige eine eingeengte Erziehungskompetenz gesehen. Dabei hat er eine unreife Persönlichkeitsstruktur der Kindesmutter festgestellt sowie Einschränkungen der emotionalen, sozialen und kognitiven Intelligenz. Der Sachverständige konstatiert eine deutlich eingeschränkte Belastbarkeit der Kindesmutter, welche rasch an ihre persönlichen Grenzen komme. Allerdings hat das Gutachten auch zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass die bei dem Kind zunächst festgestellte Gedeihstörung eindeutig auf das im Dezember 2012 diagnostizierte Silver-Russell-Syndrom zurückzuführen ist und nicht auf ein elterliches Fehlverhalten bei der Betreuung und Versorgung des Kindes. Gerade die Annahme, dass die Kindeseltern „…“ nur unzureichend versorgen und hierauf seine mangelnde Gewichtszunahmen zurückzuführen sei, war jedoch Grundlage der Inobhutnahme des Kindes im November 2012. Anlässlich des stationären Klinikaufenthaltes des Kindes im November 2012 führten die Ärzte das geringe Gewicht des Kindes bei Aufnahme auf Erziehungsdefizite der Kindesmutter zurück, was letztlich zu der Empfehlung einer außerhäuslichen Unterbringung des Kindes führte. Diese Annahme war aus damaliger Sicht naheliegend, da zu diesem Zeitpunkt das Silver-Russell-Syndrom noch nicht diagnostiziert war. Der Sachverständige „…“ hat aber anhand eines Vergleichs der Wachstumsdaten des Kindes mit den entsprechenden Vergleichsdaten für Kinder mit dem Silver-Russell-Syndrom sorgfältig und zur Überzeugung des Gerichts dargestellt, dass Größe, Gewicht und Wachstumsgeschwindigkeit des Kindes nicht auf eine Unterversorgung durch die Kindeseltern zurückzuführen sind (vgl. Bl. 41 f. des Gutachtens). Damit hat sich der wesentliche Grund für die Inobhutnahme des Kindes im Nachhinein als unzutreffend herausgestellt. Wäre die Diagnose des Silver-Russell-Syndroms zu einem früheren Zeitpunkt gestellt worden, wäre es zu einer Herausnahme des Kindes aus der Familie möglicherweise nicht gekommen.

Dem Gericht ist insbesondere aufgrund der anschaulichen Schilderungen der Pflegeeltern in ihrer persönlichen Anhörung und aufgrund der vorliegenden Arztberichte allerdings auch bewusst, dass es sich bei „…“ aufgrund der vorliegenden Erkrankungen um ein Kind mit einem erheblichen Versorgungs- und Förderungsbedarf handelt, welchem die Kindeseltern alleine nicht ausreichend nachkommen können. Die Betreuung und Versorgung des Kindes stellt schon an Eltern ohne jegliche Einschränkung der Erziehungsfähigkeit erhebliche Anforderungen, welche die Pflegeeltern seit Aufnahme des Kindes in vorbildlicher Weise erfüllt haben. Sicher wäre es den Pflegeeltern dauerhaft eher möglich, die bestmögliche Versorgung und Förderung des Kindes zu gewähren. Allein die Tatsache, dass das Kind bei den Pflegeeltern möglicherweise besser aufgehoben wäre als bei den leiblichen Eltern rechtfertigt vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedoch nicht den Entzug der elterlichen Sorge und die Fremdunterbringung des Kindes (vgl. auch OLG Frankfurt, FamRZ 2003, 1316 f.). Der Sachverständige hat bereits in seinem schriftlichen Gutachten dargestellt, welche konkreten Maßnahmen zur Unterstützung der Kindeseltern bei der Versorgung des Kindes nötig sind. Nähere Erläuterungen hierzu hat er in der mündlichen Verhandlung vom 25.07.2013 gegeben. Es handelt sich um zahlreiche und umfangreiche Maßnahmen, deren Organisation und Finanzierung erhebliche Anforderungen an das zuständige Jugendamt stellt. Das Gericht ist jedoch nicht der Auffassung, dass es unmöglich sein wird, entsprechende Hilfen zu organisieren, wenn dies sicher auch nicht sehr kurzfristig in allen Bereichen gelingen können wird. Das Gericht kann dabei auch die Skepsis des Jugendamtes nachvollziehen, ob die Kindeseltern die zu gewährenden Hilfen tatsächlich in Anspruch nehmen werden. Die Kindeseltern und hier insbesondere die Kindesmutter haben in der Vergangenheit möglicherweise Einschränkungen in ihrer Kooperationsfähigkeit gezeigt. Bei der Bewertung dieses Verhaltens ist aber besonders zu berücksichtigen, dass sich die Kindeseltern von Anbeginn der Erziehungshilfe dem Vorwurf der unzureichenden Versorgung des Kindes ausgesetzt gesehen haben, welcher sich im Nachhinein als ungerechtfertigt herausgestellt hat. Die Persönlichkeitsstruktur der Kindesmutter ist dabei ein Teil der Problematik. Der Sachverständige hat insoweit in seiner mündlichen Anhörung darauf hingewiesen, dass die Kindesmutter sich oft selbst ungünstig darstelle und eine sehr direkte Art habe, die ihr sicher Probleme im Umgang mit anderen bereite. Auch fällt es der Kindesmutter nach der Feststellung des Sachverständigen schwer, Ratschläge ohne weiteres umzusetzen. Gleichwohl hat der Sachverständige sowohl in seinem schriftlichen Gutachten als auch im Rahmen seiner mündlichen Anhörung festgehalten, dass die Kindesmutter in der Lage ist, Hilfestellungen und Unterstützung von dritter Seite anzunehmen. Das Gericht geht dabei davon aus, dass diese Bereitschaft eher bestehen wird, nachdem der Vorwurf der mangelnden Versorgung des Kindes nicht mehr im Raum steht und nachdem die Kindeseltern nunmehr erfahren haben, wie gravierend eine Herausnahme des Kindes aus der Familie ist. Letztlich muss auch festgestellt werden, dass es zwar immer wieder Schwierigkeiten für das Jugendamt und die helfenden Institutionen im persönlichen Umgang mit der Kindesmutter gegeben hat. Gleichwohl hat die Kindesmutter in der Vergangenheit an den maßgeblichen Schnittstellen zum Wohle des Kindes mitgewirkt. Notwendige Anträge auf Hilfe zur Erziehung wurden stets gestellt. Dass die Kindeseltern letztlich nicht der dauerhaften Fremdunterbringung zustimmen konnten, ist menschlich nachvollziehbar und insoweit nicht als mangelnde Kooperationsfähigkeit auszulegen.

Letztlich bleibt festzuhalten, dass die Pflegeeltern sicher eher in der Lage wären, für das Kind bestmögliche Lebens- und Entwicklungsbedingungen zu schaffen. Dies ist mit Blick auf das grundgesetzlich garantierte Elternrecht jedoch nicht der Maßstab der gerichtlichen Entscheidung. Soweit durch öffentliche Hilfe eine annähernd gleichwertige Versorgung des Kindes in der elterlichen Familie gesichert werden kann, ist eine Herausnahme des Kindes aus der Familie gegen den Willen der Eltern nicht zu rechtfertigen.

Nach dem eindeutigen Ergebnis des Sachverständigengutachtens und dem persönlichen Eindruck des Gerichts von den Kindeseltern kommt eine Beibehaltung der elterlichen Sorge jedoch nur unter Auflagen in Betracht. Ein Wechsel des Kindes in den elterlichen Haushalt setzt die Inanspruchnahme zahlreicher ambulanter Hilfen durch die Kindeseltern voraus, wie sie der Sachverständige in seinem Gutachten dargestellt hat. Sofern die von dem Sachverständigen vorgeschlagenen ambulanten Hilfen von den Kindeseltern nicht angenommen werden sollten, besteht nur die Alternative der Fremdunterbringung des Kindes.

Selbstverständliche Voraussetzung der Betreuung im elterlichen Haushalt ist dabei, dass die Eltern einen qualifizierten Kinderarzt sowie qualifizierte Therapeuten für die notwendigen Fördermaßnahmen (Krankengymnastik etc.) gefunden haben. Ebenso zwingend ist die Einhaltung des von den Pflegeeltern bereits vereinbarten Untersuchungstermins bei einem Spezialisten für das Silver-Russell-Syndrom und die Wahrnehmung möglicher weiterer Termine dort.

Unabdingbar für eine Rückführung ist zudem die Organisation einer Tagesbetreuung für „…“. Insoweit stimmen alle Beteiligten und auch der Sachverständige darin überein, dass die Kindesmutter mit der Betreuung und Versorgung des Kindes überfordert wäre, wenn sie diese ganztägig alleine zu bewältigen hätte. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang auch ein erhöhter Betreuungsanteil des Kindesvaters. Zweifelhaft ist, inwieweit dieser durch eine Umgestaltung der Arbeitszeiten des Kindesvaters gelingen kann, wie es das Jugendamt in seiner Stellungnahme vom 15.8.2013 anregt. Jedenfalls ist es zwingend, dass der Kindesvater sich außerhalb seiner Arbeitszeiten intensiv um das Wohlergehen des Kindes kümmert. Eine darüber hinausgehende Fremdbetreuung ist nach dem eindeutigen Ergebnis des Sachverständigengutachtens unerlässlich. Der Sachverständige hat dabei nicht zwingend eine ganztägige Betreuung für erforderlich gehalten, in seiner mündlichen Anhörung aber erklärt, dass dies letztlich von den Einzelheiten und der näheren Gestaltung der Betreuung abhängt.

Das Gericht geht nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen „…“ und auch vor dem Hintergrund der durch die Pflegeeltern eingereichten Stellungnahmen des Zentrums für Kinderheilkunde und Jugendmedizin,sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ), vom 19.7.2013 und 23.7.2013 nicht davon aus, dass jegliche Form der weitergehenden Fremdbetreuung für „…“ schädlich wäre. In der Stellungnahme des SPZ vom 19.7.2013 (Bl. 182 ff. d.A.) ist festgehalten, „dass der Beginn des Kindergartens in einer großen Gruppe aktuell „…“ noch überfordern würde, sodass zunächst eine weitere Betreuung zu Hause aus unserer Sicht zu empfehlen wäre“. In der Stellungnahme vom 23.7.2013(Bl. 221 b ff.) heißt es: „Der Eintritt in den Kindergarten ist erst im Alter von 3 Jahren sinnvoll; er sollte dann im Rahmen einer Integrationsmaßnahme betreut und gefördert werden“.Dies steht der Einschätzung des Sachverständigen „…“ letztlich nicht entgegen. Auch dieser hat in seiner mündlichen Anhörung erklärt, dass eine Betreuung durch eine Tagesmutter oder in einer Kleingruppe für ihn vorstellbar sei, dies aber sicher anders in einer 20-köpfigen Kindergartengruppe zu beurteilen sei. Damit ist eine Aufnahme des Kindes in den von den Kindeseltern angedachten Kindergarten nicht möglich, sollte sich ergeben, dass es sich dabei um eine Kindergartengruppe üblicher Größe handeln sollte.

Eine Wiederaufnahme des Kindes in den elterlichen Haushalt kommt insgesamt daher nur in Betracht, wenn die entsprechenden Hilfen installiert sind. Eine Rückführung des Kindes hat vor dem Hintergrund seiner mehrmonatigen Unterbringung in der Pflegefamilie ohnehin behutsam und über einen längeren Zeitraum zu erfolgen.

Der Antrag der Pflegeeltern auf Anordnung des Verbleibs des Kindes bei ihnen gem. § 1632 Abs. 4 BGB war hingegen zurückzuweisen. Lebt das Kind seit längerer Zeit in Familienpflege und wollen die Eltern das Kind von der Pflegeperson wegnehmen, so kann das Familiengericht nach dieser Vorschrift anordnen, dass das Kind bei der Pflegeperson bleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet würde. „…“ befindet sich seit nunmehr rund 9 Monaten bei den Pflegeeltern. Angesichts des Alters des Kindes kann dies ohne weiteres als ein längerer Zeitraum im Sinne des § 1632 Abs. 4 BGB erachtet werden, sodass zu prüfen war, ob die Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie das Kindeswohl aufgrund der gewachsenen Bindungen zu den Pflegeeltern gefährden würde. Bei der nach § 1632 Abs. 4 BGB zu treffenden Entscheidung stehen sich das grundgesetzlich geschützte Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) und die Grundrechtsposition des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gegenüber. Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung dieser verfassungsrechtlich geschützten Rechte ist zu berücksichtigen, dass auch im Bereich des Art. 6 Abs. 2 GG das Wohl des Kindes immer den Richtpunkt bildet, sodass dieses bei einem Interessenkonflikt zwischen dem Kind und seinen Eltern letztlich bestimmend sein muss (vgl. Bundesverfassungsgericht, FamRZ 2010,865). Das Kindeswohl gebietet es, die neuen gewachsenen Bindungen des Kindes zu seinen Pflegeeltern zu berücksichtigen und das Kind aus einer Pflegefamilie nur herauszunehmen, wenn die körperlichen,geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von seinen bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtsposition des Kindes hinnehmbar sind (vgl. BVerfG aaO).

Es kann sicher davon ausgegangen werden, dass „…“ zu seinen Pflegeeltern eine Bindung entwickelt hat. Diese haben ihn über 9 Monate liebevoll und intensiv betreut und versorgt. Im Gegensatz zu den mehrmonatigen Krankenhausaufenthalten und ständigen Wechseln zwischen elterlichem Haushalt und Klinik kann ohne weiteres davon ausgegangen werden,dass „…“ hier erstmals eine längere Phase der Ruhe und der Stabilität gefunden hat, welche die Bindung des Kindes zu den Pflegeeltern sicher gefördert hat. Die Trennung von den Pflegeeltern wird für „…“ voraussichtlich mit einer erheblichen psychischen Belastung verbunden sein. Hinzu kommen seine gesundheitlichen Einschränkungen, die ihm ein Verständnis und eine Verarbeitung des Wechsels vermutlich zusätzlich erschweren werden. Allein das Risiko einer Beeinträchtigung des Kindes im Falle der Rückführung rechtfertigt jedoch nicht die Anordnung des Verbleibs in der Pflegefamilie. Bei der Abwägung zwischen Elternrecht und Kindeswohl im Rahmen von §1632 Abs. 4 BGB ist grundsätzlich ein größeres Maß an Unsicherheit über mögliche Beeinträchtigungen des Kindes hinnehmbar, als bei einem beabsichtigten Wechsel der Pflegefamilie, welcher nur dann zulässig ist, wenn mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen oder physischen Schädigungen verbunden sein kann (vgl.BVerfG aaO Seite 866). Die Beantwortung der Frage, ob das Kindeswohl durch die Wegnahme aus der Pflegefamilie nachhaltig gefährdet würde, erfordert regelmäßig eine auf die Zukunft bezogene Prognoseentscheidung, die zwangsläufig mit Ungewissheiten behaftet ist. Die Prognoseunsicherheit darf im Hinblick auf das grundgesetzlich garantierte Elternrecht nicht dazu führen, dass eine Rückkehr des Kindes zu seinen Eltern schon dann unterbleibt, wenn nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Herausnahme des Kindes aus einer Pflegefamilie zu einer psychischen oder physischen Schädigung des Kindes führt. Andererseits ist Voraussetzung einer Verbleibensanordnung aber auch nicht, dass eine Kindeswohlschädigung bei Rückkehr des Kindes zu seinen Eltern mit Sicherheit zu erwarten ist, da ein solches Verständnis das Kindeswohl nicht ausreichend berücksichtigen würde (vgl. BVerfG aaO).

Dem Gericht oblag vor diesem Hintergrund die Prognose, mit welcher Wahrscheinlichkeit nachhaltige Schädigungen des Kindes durch eine Rückführung in den elterlichen Haushalt aufgrund der zu den Pflegeeltern gewachsenen Bindungen zu erwarten sind. Das Gericht hat sich nach sorgfältiger Abwägung gegen die Einholung eines weiteren Gutachtens zu dieser Frage entschieden. Die Frage der Bindung des Kindes zu den Pflegeeltern und den Eltern sowie die Zumutbarkeit der Rückführung wurde mit dem Sachverständigen „…“ im Rahmen seiner mündlichen Anhörung erörtert. Das schriftliche Sachverständigengutachten hatte mangels einer entsprechenden Fragestellung des Gerichts zu diesem Punkt nicht Stellung genommen. Der Sachverständige hat in seiner Anhörung hierzu erklärt, dass es sich bei „…“ sicher um ein unsicher gebundenes Kind handele. Er hat weiter darauf verwiesen, dass nach neueren Forschungsergebnissen allein die Qualität der Bindung im Kleinkindalter nicht immer sichere Aussagekraft für das Bindungsverhalten auch im Jugend- und Erwachsenenalter haben. Der Sachverständige hat sich letztlich eindeutig dahingehend positioniert, dass er einen Wechsel des Kindes zurück zu den Eltern nicht für unzumutbar halte und insgesamt eine große Chance sehe, dass „…“ bei den Eltern aufwachsen und sich entwickeln könne. Das Gericht schließt sich dieser Einschätzung des Sachverständigen ohne die Anordnung eines weiteren Gutachtens an. Zwar war die Frage möglicher nachhaltiger Beeinträchtigungen des Kindeswohls durch einen Wechsel in die Herkunftsfamilie aufgrund der Bindung zu den Pflegeeltern nicht Gegenstand des ursprünglichen Gutachtenauftrags. Gleichwohl hat sich der Sachverständige im Rahmen seiner Begutachtung intensiv mit der Situation des Kindes auseinandergesetzt, sodass ihm aus Sicht des Gerichts die in seiner mündlichen Erörterung getroffene Einschätzung möglich war. Eine erneute Begutachtung des Kindes und der Kindeseltern würde zudem dazu führen, dass durch den für die Begutachtung erforderlichen Zeitrahmen eine Verfestigung der jetzigen Situation eintreten würde und damit allein durch Zeitablauf Fakten geschaffen werden könnten. Außerdem wäre die Zukunft des Kindes für mehrere weitere Monate mit Unsicherheiten belastet, die sich insbesondere auch bei der Wahrnehmung des grundsätzlich zu gewährenden Umgangs der Kindeseltern mit dem Kind nachteilig auf das Kind auswirken würden.

Der Sachverständige hat weiter darauf verwiesen, dass eine Rückführung über einen längeren Zeitraum, mindestens über 3 Monate, erfolgen müsste. Das Gericht schließt sich auch insoweit der Einschätzung des Sachverständigen an. Inwieweit für die Rückführung tatsächlich ein Zeitraum von 3 Monaten genügt oder aber erforderlich ist, wird von den zuständigen Fachkräften zu beobachten und zu beurteilen sein. Gleichzeitig ist der Zeitraum der Rückführung für die Installation der notwendigen Hilfen nutzbar. Vor diesem Hintergrund sieht das Gericht derzeit von der Anordnung einer Herausgabe des Kindes an die leiblichen Eltern ab, die diese zudem nicht beantragt haben.

Das Gericht weist die Kindeseltern an dieser Stelle nochmals eindringlich darauf hin, dass das Gelingen einer Rückführung und der dauerhafte Verbleib des Kindes in ihrer Familie nur dann gelingen kann, wenn sie die notwendigen Hilfen konsequent annehmen und umsetzen. Dabei wird insbesondere die Kindesmutter lernen müssen, Ratschläge und Hinweise von Fachkräften und auch der Pflegeltern nicht als Bevormundung, sondern als Unterstützung zum Wohl des Kindes zu sehen. Dem Gericht ist bei seiner Entscheidung bewusst, dass die Verhältnisse bei den Kindeseltern nicht ideal sind und die Umsetzung der Entscheidung deshalb ganz maßgeblich von dem zukünftigen Verhalten der Kindeseltern abhängen wird. Dabei dürfen sich die Kindeseltern nicht darauf beschränken, Hilfen lediglich einzufordern und entgegenzunehmen. Vielmehr ist ein aktives Bemühen der Kindeseltern erforderlich, soweit sie hierzu fähig sind. Dies gilt insbesondere für die Suche nach Ärzten und Therapeuten und die Mitwirkung an der Suche einer geeigneten Tagesmutter bzw. Kleingruppenunterbringung, die sich nicht auf die Anmeldung des Kindes in einem örtlichen Kindergarten beschränken kann.

Die getroffene Entscheidung entspricht auch der Einschätzung der Verfahrensbeiständin in ihrer abschließenden Stellungnahme vom 05.08.2013. Soweit diese sich auf die Bestellung eines Ergänzungspflegers für den Bereich der Gesundheitssorge bezieht, sieht das Gericht zum jetzigen Zeitpunkt hiervon ab. Der Sachverständige „…“ hat in seinem Gutachten nicht die Übertragung der Gesundheitssorge auf einen Pfleger für erforderlich gehalten. Er hat jedoch darauf hingewiesen, dass möglicherweise eine Ergänzungspflegschaft für die außergerichtliche und gerichtliche Vertretung des Kindes gegenüber Ämtern, Behörden und Versicherungen in Betracht käme. Der Sachverständige hat dies allerdings nur für den Fall vorgeschlagen, dass die Eltern sich als nicht ausreichend in der Lage erweisen sollten, insoweit durch Bevollmächtigung von Vertretern für die Wahrnehmung der Interessen des Kindes zu sorgen. Zum jetzigen Zeitpunkt besteht daher kein Anlass für eine entsprechende Maßnahme.

Das Jugendamt hat sich in seiner Stellungnahme vom 15.08.2013 gegen eine Rückführung des Kindes in den Haushalt der Kindeseltern ausgesprochen. Wie aus den vorstehenden Ausführungen ersichtlich kann das Gericht die Bedenken des Jugendamtes durchaus nachvollziehen. Vor dem Hintergrund des eingeholten Gutachtens und der mündlichen Ausführungen des Sachverständigen kommt das Gericht jedoch bei der vorzunehmenden Abwägung zu einer abweichenden Prognose.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 S. 2 FamFG. Die Festsetzung des Verfahrenswertes hat ihre Grundlage in § 45 Abs. 1Nr. 1, Abs. 3 FamGKG. Das Gericht hält die Festsetzung eines über dem Regelwert liegenden Verfahrenswerts für angezeigt, da das Verfahren mit einem überdurchschnittlichen Aufwand verbunden war.

Hinweis: Der Berichtigungsbeschluss wurde in den Entscheidungstext eingearbeitet:

Der Beschluss vom 28.08.2013 wird hinsichtlich des Tenors wie folgt berichtigt:

Es wird im Tenor folgender Ausspruch hinzugefügt:

Der Antrag der Pflegeltern auf Anordnung des Verbleibs des Kindes in der Pflegefamilie wird zurückgewiesen.

Gründe:

Die Berichtigung erfolgt von Amts wegen gemäß § 42 FamFG wegen einer einem Schreib- oder Rechenfehler ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit.

Die Pflegeltern haben, wie auch aus den Entscheidungsgründen ersichtlich, beantragt, den Antrag auf Herausgabe des Kindes „…“, geb. am 03.02.2011, abzulehnen und den Verbleib des Kindes „…“ bei den Pflegeltern anzuordnen.

Über den Antrag der Pflegeltern auf Anordnung des Verbleibs wurde ausweislich der Gründe des Beschlusses vom 28.08.2013 (Bl.256 ff d.A.) entschieden. Allerdings wurde versehentlich die aus den Gründen ersichtliche Zurückweisung des Antrages nicht im Tenor der Entscheidung zum Ausdruck gebracht. Insoweit handelt es sich um eine offenbare Unrichtigkeit i.S.d. § 42 FamFG, so dass der Beschluss von Amts wegen zu berichtigen war. Ein Fall der Beschlussergänzung gemäß § 43 FamFG ist nicht gegeben (vgl.MüKo-Ulrici ZPO § 43 Rn 7; zu §§ 319, 321 ZPO: BGH NJW-RR 1991,1278 f; OLG Saarbrücken OLGR 2001, 330; OLG Stuttgart FamRZ 1984,402).

Im Hinblick auf den Antrag der Pflegeltern, den Herausgabeantrag der Kindeseltern zurückzuweisen, bedurfte es einer Entscheidung des Gerichts schon deshalb nicht, weil ein entsprechender Herausgabeantrag nicht gestellt wurde. Insoweit ist keine Notwendigkeit einer Berichtigung oder Ergänzung des Beschlusses gegeben.

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