LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20.10.2021 – L 8 SO 157/21 B ER

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschluss

L 8 SO 157/21 B ER
S 24 SO 117/21 ER Sozialgericht Bremen

In dem Beschwerdeverfahren

1. …,
2. …,
3. …,
4. …,
zu 1-4 wohnhaft: …, Bremen
zu 2-4 vertreten durch …, Bremen
– Antragsteller und Beschwerdeführer –

Prozessbevollmächtigte:

zu 1-4: Rechtsanwälte Beier & Beier, Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen

gegen

Stadtgemeinde Bremen vertreten durch die Senatorin, für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport, Bahnhofsplatz 29, 28195 Bremen
– Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin –

beigeladen:

Jobcenter Bremen, vertreten durch die Geschäftsführung, Utbremer Straße 90, 28217 Bremen

hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 20. Oktober 2021 in Celle durch die Richter W. und F. sowie die Richterin H. beschlossen:

Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 18. August 2021 aufgehoben.

Der Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung dem Grunde nach verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig lebensunterhaltssichernde Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe für die Zeit ab dem 23. Juli 2021 bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über den Widerspruch vom 14. Oktober 2021 gegen den Ablehnungsbescheid des Beigeladenen vom 7. Oktober 2021, längstens jedoch bis zum 28. Februar 2022, zu gewähren. Im Übrigen wird der Eilantrag abgelehnt.

Der Beigeladene hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerinnen für das erst- und zweitinstanzliche Verfahren zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

Gründe:
I.

Im Streit sind vorläufige existenzsichernde Leistungen für Unionsbürgerinnen ab Juli 2021.

Die 1980 geborene Antragstellerin zu 1 ist die allein erziehende Mutter der 2018 und 2020 in Deutschland geborenen Antragstellerinnen zu 2 und 3 sowie der 2014 geborenen und im März 2021 nach Deutschland nachgereisten Antragstellerin zu 4. Die Antragstellerinnen sind spanische Staatsangehörige. Nach ihrer Einreise nach Deutschland nahm die Antragstellerin zu 1 Anfang 2018 ihren (gemeldeten) Wohnsitz im Stadtgebiet der Antragsgegnerin und war zunächst bis Ende Juni 2018 bei einer Gebäudereinigungsfirma beschäftigt. Im Anschluss bezog sie Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, auch nach der Geburt der Antragstellerin zu 2 und während einer befristeten Beschäftigung als Reinigungskraft bei der X GmbH vom 27.3.2019 bis zum 26.3.2020, für die sie bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden ein monatliches Gehalt von 800,00 € (brutto) erzielte. Seit April 2020 leben die Antragstellerinnen in einer mit Zusicherung des Beigeladenen angemieteten etwa 68 qm großen Dreizimmerwohnung in Bremen, für die eine Grundmiete von 396,00 € sowie Vorauszahlungen für Betriebs- und Heizkosten von 158,00 € (seit Mai 2021 von 164,10 €) bzw. 99,00 € zu entrichten sind.

Nachdem der wegen der Einstellung der Leistungen nach dem SGB II zum 26.9.2020 gestellte Sozialhilfeantrag von der Antragsgegnerin abgelehnt worden war (Bescheid vom 18.9.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2020, angefochten durch die beim SG anhängige Klage – S 24 SO 204/20 -), erwirkten die Antragstellerinnen zu 1 bis 3 beim Sozialgericht (SG) Bremen eine einstweilige Anordnung, nach der die Antragsgegnerin ihnen wegen der Umstände der Covid-19-Pandemie bis zum 12.1.2021 vorläufig Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 und 6 SGB XII zu erbringen hatte (Beschluss des SG vom 12.10.2020 – S 24 SO 174/20 ER -). Auch im Weiteren gewährte die Antragsgegnerin laufende Leistungen, zuletzt unter Anrechnung von Kindergeld und Unterhaltsvorschuss in monatlicher Höhe von etwa 1.270,00 € für die Zeit bis Ende Juni 2021 (Bescheid vom 20.4.2021).

Nach Stellung eines (später mit Bescheid vom 30.7.2021 abgelehnten; dagegen Widerspruch vom 9.8.2021) Folgeantrages bei der Antragsgegnerin per E-Mail vom 13.7.2021 „auf Leistungen ab dem 1.7.2021“ haben die Antragstellerinnen am 23.7.2021 beim SG wiederum um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und sich u.a. auf den völkerrechtlichen Gleichbehandlungsanspruch nach dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) berufen, hilfsweise auf eine unzumutbare Ausreise nach Spanien aufgrund der dortigen Umstände der Pandemie. Das SG hat den Eilantrag durch Beschluss vom 18.8.2021 mit der Begründung abgelehnt, die Antragstellerinnen seien gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen und könnten sich nicht auf Art. 1 EFA berufen, weil sie sich nicht materiell freizügigkeitsberechtigt in Deutschland aufhielten. Auch Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 und 6 SGB XII könnten sie nicht beanspruchen, weil ihnen eine freiwillige Ausreise nach Spanien mittlerweile zuzumuten sei. Einer Beiladung des im Beschwerdeverfahren beigeladenen Jobcenters (Senatsbeschluss vom 1.9.2021) habe es nicht bedurft, weil es im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich zumutbar sei, Ansprüche direkt gegen den für zuständig erachteten Leistungsträger geltend zu machen, die Antragstellerinnen aber selbst davon ausgingen, gegenwärtig keinen Leistungsanspruch nach dem SGB II zu haben. Ein entsprechender Anspruch komme frühestens ab der Einschulung der Antragstellerin zu 4 Mitte September 2021 über ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 VO (EU) 492/2011 (Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.4.201 über die Freizügigkeit der Abreitnehmer innerhalb der Union, ABl. L 141 S. 1) in Betracht.

Mit der hiergegen gerichteten Beschwerde vom 25.8.2021 machen die Antragstellerinnen u.a. geltend, ihr Aufenthalt und sozialer Lebensmittelpunkt in Deutschland habe sich mittlerweile verfestigt und ein Ausschluss von existenzsichernden Leistungen sei nach dem ein Jahr währenden Arbeitsverhältnis bei der X GmbH unverhältnismäßig. Jedenfalls würden ihnen ab September 2021 wegen der Einschulung der Antragstellerin zu 4 Leistungen nach dem SGB II zustehen. Die Antragstellerinnen würden ihren Lebensunterhalt durch Kindergeld bestreiten, die Unterhaltsvorschussleistungen betreffend die Antragstellerin zu 2 seien im Frühjahr 2021 eingestellt worden. Die Vermieterin habe bereits einen Räumungstitel erwirkt (vornehmlich wegen Rückständen aus den ersten Monaten des Mietverhältnisses) und lasse die Familie nur in der Wohnung wohnen, wenn regelmäßig Miete und eine Zusatzabzahlung auf die Schulden in monatlicher Höhe von 150,00 € gezahlt werde.

Die Antragsgegnerin hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend, ebenso der Beigeladene, der zusätzlich geltend macht, der Antragstellerin zu 4 stehe ab der Einschulung im September 2021 auch kein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO (EU) 492/2011 zu, weil sie zu einem Zeitpunkt nach Deutschland eingereist sei, in dem der Status der Antragstellerin zu 1 als Arbeitnehmerin lediglich fortgewirkt habe. Die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II hat er während des Beschwerdeverfahrens durch Bescheid vom 7.10.2021 mit der Begründung abgelehnt, die Antragstellerin zu 1 würde sich lediglich zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II). Über den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 14.10.2021 liegt noch keine Entscheidung vor.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin (Amt für soziale Dienste und Migrationsamt) sowie des Beigeladenen Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG; zur Bestimmung des Beschwerdewertes in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes betreffend existenzsichernde Leistungen vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 9.4.2020 – L 8 AY 4/20 B ER – juris Rn. 19, vom 12.12.2016 – L 8 AY 51/16 B ER – juris Rn. 8 und vom 17.8.2017 – L 8 AY 17/17 B ER – juris Rn. 4) Beschwerde ist begründet. Das SG hat den auf die Gewährung existenzsichernder Leistungen gerichteten Eilantrag der Antragstellerinnen – einer alleinerziehenden Mutter und drei Kindern im Alter von fast zwei bis sechs Jahren – nach einer nur summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache und auf eine zur Gewährleistung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG unzureichende Weise (vgl. dazu BVerfG, Beschlüsse vom 8.7.2020 – 1 BvR 932/20 – juris Rn. 9 ff. und vom 12.5.2005 – 1 BvR 569/05 – juris Rn. 22 ff.) zu Unrecht abgelehnt.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Das einer einstweiligen Anordnung zugängliche streitige Rechtsverhältnis wird durch den Widerspruch vom 9.8.2021 gegen den ablehnenden Bescheid der Antragsgegnerin vom 30.7.2021 begründet, durch den der per E-Mail vom 13.7.2021 gestellte Antrag auf laufende Leistungen nach dem SGB XII (zur Antragstellung per E-Mail in nichtförmlichen Verfahren, soweit der Leistungsträger – wie hier – einen Zugang für eine entsprechende Kommunikation eröffnet hat, vgl. BSG, Urteil vom 11.7.2019 – B 14 AS 51/18 R – juris Rn. 16 m.w.N.) abgelehnt worden ist. Dieser Antrag gilt gemäß § 16 Abs. 2 SGB I auch im Verhältnis zu dem für die Antragstellerinnen zuständigen Beigeladenen als gestellt, weil er sich inhaltlich auf einen regelhaften Bezug existenzsichernder Leistungen – gleich ob nach dem SGB XII oder dem SGB II – bezieht. Nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung, nach dem ein Sozialleistungsantrag im Zweifel alle Ansprüche umfasst, die nach Lage der Dinge in Frage kommen, stellt ein wegen Bedürftigkeit beim Sozialhilfeträger gestellter Antrag auf Sozialleistungen in der Regel auch ein Antrag auf Leistungen nach dem SGB II dar; dies gilt umgekehrt auch für einen beim Jobcenter gestellten Antrag (vgl. BSG, Urteil vom 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – juris Rn. 39 m.w.N.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 5.9.2016 – L 7 AS 484/16 B ER – juris Rn. 41; BSG, Urteil vom 26.8.2008 – B 8/9b SO 18/07 R – juris Rn. 22; Aubel in jurisPK-SGB XII, 5. Aufl. 2020, § 37 Rn. 20 f. m.w.N.; a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.6.2017 – L 29 AS 2670/13 – juris Rn. 92 ff., aufgehoben durch BSG, Urteil vom 9.8.2018 – B 14 AS 32/17 R – juris). Weil die Antragstellerinnen nicht bloß „Überbrückungsleistungen“ i.S. des § 23 Abs. 3 Satz 3 bis 6 SGB XII beantragt haben, sondern laufende „Leistungen ab dem 1.7.2021“ bedarf es keiner abschließenden Erörterung, ob ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen ein „aliud“ gegen-über einem Anspruch auf laufende existenzsichernde Sozialleistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII darstellt (ebenfalls offen gelassen durch BSG, Urteil vom 27.1.2021 – B 14 AS 25/20 R – juris Rn. 36; zum Meinungsstand Siefert in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 23 Rn. 115 m.w.N.). Auch wenn der Ablehnungsbescheid des Beigeladenen vom 7.10.2021 den während des Beschwerdeverfahrens von den Antragstellerinnen übersandten Formantrag vom 16.9.2021 nennt, betrifft diese Entscheidung wegen der o.g. Antragstellung den Leistungsanspruch der Antragstellerinnen nach dem SGB II für die Zeit ab dem 1.7.2021 (zur Rückwirkung des Antrages auf den Monatsersten vgl. § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II), der Gegenstand des noch nicht abgeschlossenen Vorverfahrens ist (Widerspruch vom 14.10.2021).

Insoweit haben die Antragstellerinnen einen Anordnungsanspruch gegen den Beigeladenen auf laufende Leistungen nach dem SGB II glaubhaft gemacht. Der gegen den Antragsgegner gerichtete Eilantrag ist hingegen aufgrund der Sperrwirkung des § 21 Satz 1 SGB XII (vgl. dazu u.a. BSG, Urteil vom 3.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – juris Rn. 40 ff.; grundlegend auch Senatsbeschluss vom 23.5.2014 – L 8 SO 129/14 B ER – juris Rn. 13 ff.) unbegründet und (insoweit) abzulehnen.

Die Antragstellerin zu 1 ist als erwerbsfähige Person mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland dem Grunde nach leistungsberechtigt gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II (zur Hilfebedürftig-keit später).

Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II liegt nicht vor, weil sie wegen ihres fortwirkenden Status als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (BGBl. I 2004, 1950, zuletzt geändert durch Gesetz vom 9.7.2021, BGBl. I 2467 – FreizügG/EU) i.V.m. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU (analog) ist und sich damit nicht ohne Aufenthaltsrecht (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 2 lit. a SGB II) bzw. allein zum Zwecke der Arbeitssuche (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. b SGB II) in Deutschland aufhält. Andere Ausschlussgründe liegen ebenfalls nicht vor. Die Antragstellerin zu 1 ist aufgrund ihrer Tätigkeit für die X GmbH vom 27.3.2019 bis zum 26.3.2020 als Arbeitsnehmerin i.S. des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt gewesen, weil diese Beschäftigung die niedrigschwelligen Anforderungen für eine Arbeitnehmereigenschaft nach europarechtlichen Maßgaben (Art. 45 AEUV) erfüllt. Die Freizügigkeitsberechtigung als Arbeitnehmer setzt die Ausübung einer tatsächlichen und echten Tätigkeit als Arbeitnehmer voraus, die nicht nur von geringem Umfang oder völlig untergeordneter oder unwesentlicher Bedeutung ist, wobei das erzielte Arbeitsentgelt aber nicht das Existenzminimum der betreffenden Person und ihrer Familienangehörigen vollständig abdecken muss (vgl. u.a. EuGH, Urteil vom 21.2.2013 – C-46/12 – juris Rn. 42; BSG, Urteil vom 16.12.2015 – B 14 AS 15/14 R – juris Rn. 23 m.w.N.). Die Erwerbstätigkeit in einem regelhaften Umfang von 20 Stunden je Woche für ein (Brutto-)Gehalt von 800,00 € erfüllt diese Voraussetzungen, was auch vom Beigeladenen nicht in Zweifel gezogen wird. Der EuGH hat zur Bejahung der Arbeitnehmereigenschaft einer Raumpflegerin bereits eine Tätigkeit in einem Umfang von bis zu zehn Wochenstunden ausreichen lassen (vgl. EuGH, Urteil vom 14.12.1995 – C-444/93, Mengner und Scheffel – juris).

Der Status einer Arbeitnehmerin bzw. das entsprechende Freizügigkeitsrecht wirkt bis heute gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU (analog) fort. Danach bleibt das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU für Arbeitnehmer (…) unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit (…) nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Da der Beigeladene hier ein Fortwirken der Arbeitnehmereigenschaft jedenfalls für einen Zeitraum von sechs Monaten nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU und damit wegen des bloßen Ablaufs des befristeten Arbeitsverhältnisses (zu Recht) eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit angenommen hat (vgl. dazu etwa Hessischer VGH, Urteil vom 16.4.2021 – 9 A 2282/19 – juris Rn. 33; SG Dortmund, Beschluss vom 18.4.2016 – S 32 AS 380/16 ER – juris Rn. 55), geht der Senat im Rahmen des Eilverfahrens davon aus, dass die entsprechende Bestätigung der Agentur für Arbeit vorliegt, auch wenn sie in den Verwaltungsvorgängen des Beigeladenen nicht aufgefunden werden konnte (zu deren konstitutiven Bedeutung vgl. BSG, Urteil vom 13.7.2017 – B 4 AS 17/16 R – juris Rn. 34 m.w.N.; krit. dazu u.a. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 7.8.2020 – L 7 AS 1376/20 ER-B – juris Rn. 23 m.w.N.). Jedenfalls ist davon auszugehen, dass die Bestätigung – sollte sie noch nicht vorliegen – spätestens im Hauptsacheverfahren ausgestellt werden wird (zum Bestehen des Freizügigkeitsrechts bis zu der Entscheidung der Agentur für Arbeit vgl. Ziff. 2.3.1.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift – AVV – zum FreizügG/EU vom 3.2.2016, GMBl. 2016, S. 86).

Die Tätigkeit der Antragstellerin zu 1 währte nicht mehr als ein Jahr, wie es § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU nach seinem Wortlaut voraussetzt, aber genau ein Jahr. In diesen Fall ist zur Schließung einer vom Gesetzgeber unbeabsichtigten Regelungslücke § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU analog anzuwenden. Die Dauer der Fortwirkung der Arbeitnehmereigenschaft bei einer (genau) ein Jahr währenden Beschäftigung ist gesetzlich nicht geregelt (vgl. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 FreizügG/EU und Art. 7 Abs. 3 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG). Rechtsprechung des EuGH und der Grundsatz der europarechts- und freizügigkeitsfreundlichen Auslegung sprechen aber eindeutig dafür, dass bei einem auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag und der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses zum vorgesehenen Zeitpunkt der Arbeitsnehmerstatus grundsätzlich erhalten bleibt (vgl. EuGH, Urteil vom 11.4.2019 – C-483/17 – juris Rn. 47; so auch Hessisches LSG, Urteil vom 9.9.2020 – L 6 AS 126/18 – juris Rn. 41 ff.; Leopold in jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 105; Zieglmeier, NZS 2021, 448; so auch Ziff. 2.3.1.2 der AVV zum FreizügG/EU). Hierfür sprechen zudem systematische Erwägungen, weil das FreizügG/EU auch in anderen Zusammenhängen auf eine Erwerbstätigkeit von mindestens zwölf Monaten abstellt (vgl. § 4a Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU).

Ob die Fortgeltung der Arbeitnehmereigenschaft nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU einer festen zeitlichen Grenze unterliegt und diese nach einem Zeitraum von zwei Jahren zu ziehen ist (vgl. dazu BSG, Urteil vom 13.7.2017 – B 4 AS 17/16 R – juris Rn. 33 m.w.N.), muss hier nicht beantwortet werden, weil das Freizügigkeitsrecht der Antragstellerin zu 1 auch dann (jedenfalls) bis zum 26.3.2022 fortwirken würde und damit länger als die vom Senat verfügte Regelungsanordnung. Allerdings tendiert der Senat aber in diesen Fällen zu einer grundsätzlich unbefristeten Fortwirkung (vgl. auch Ziff. 2.3.1.2 der AVV zum FreizügG/EU).

Die Antragstellerinnen zu 2 bis 4, die leiblichen Kinder der Antragstellerin zu 1, sind als deren Familienangehörige i.S. des § 2 Abs. 2 Nr. 6, § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ebenfalls freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, weil sie der Antragstellerin zu 1 „nachgezogen“ sind. Von einem „Nachziehen“ i.S. des § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist insbesondere auch die Geburt eines Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat, in dem der Unionsbürger wohnt und arbeitet, umfasst (vgl. etwa Bayerischer VGH, Urteil vom 25.5.2019 – 10 BV 18.281 – juris Rn. 30; VG Augsburg, Urteil vom 17.6.2020 – Au 6 K 18.116, Au 6 K 18.395 – juris Rn. 40 a.E.). Sie sind damit ebenfalls nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, sondern vielmehr als Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II leistungsberechtigt und können Sozialgeld beanspruchen.

Die Antragstellerinnen haben in hinreichender Weise glaubhaft gemacht, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern können und die erforderliche Hilfe nicht von anderen erhalten, also hilfebedürftig i.S. der §§ 9 ff. SGB II sind. Ohnehin liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich ihre wirtschaftliche Situation seit Einstellung der Sozialhilfegewährung Ende Juni 2021 – abgesehen von einer Elterngeldnachzahlung (dazu gleich) – wesentlich geändert haben könnte. Die ihnen zustehenden Leistungen umfassen nach § 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II die Regelbedarfe (§ 20 SGB II) nach den Regelbedarfsstufen 1 (446,00 €), 5 (309,00 €) und 6 (zwei mal 283,00 €), den Mehrbedarf der Antragstellerin zu 1 wegen alleiniger Erziehung nach § 21 Abs. 3 Nr. 1 SGB II in Höhe von 36 % der Regelbedarfsstufe 1 (160,56 €) und die Bedarfe für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II in einer Gesamthöhe von 659,10 € (Grundmiete von 396,00 € sowie Vorauszahlungen für Betriebs- und Heizkosten von 164,10 € bzw. 99,00 €) und belaufen sich in der Summe auf 2.140,66 €. Dem stehen – soweit ersichtlich – Einkünfte in Gestalt des Kindergeldes gegenüber (für die Antragstellerinnen zu 2 und 4 in Höhe von 219,00 € sowie – zukünftig ab Bewilligung – für die Antragstellerin zu 3 in Höhe von 225,00 €), das gemäß § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II als Einkommen dem jeweiligen Kind zuzurechnen ist, sowie nach den vorgelegten Kontoauszügen womöglich gelegentliche Zuwendungen von Herrn M. D. (vgl. die Gutschrift am 16.4.2021 von 200,00 €, Betreff „family“). Über einzusetzendes, die Freibeträge nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 1a SGB II übersteigendes Vermögen verfügen die Antragstellerinnen nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht, auch wenn der Verbleib einer beträchtlichen Nachzahlung von Elterngeld im Juni 2021 (von über 5.000,00 €) wegen Barabhebungen von mindestens 3.000,00 € im Eilverfahren nicht abschließend geklärt werden kann.

Die Antragstellerinnen haben gleichwohl die besondere Dringlichkeit einer Regelungsanordnung (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht, weil wegen der Wechselbeziehung zwischen Anordnungsanspruch und -grund an das Vorliegen der besonderen Eilbedürftigkeit weniger strenge Anforderungen zu stellen sind, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache – wie hier – wahrscheinlich ist (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Beschluss vom 9.7.2020 – L 8 AY 52/20 B ER – juris Rn. 32). Entscheidend ist insoweit auch, dass die Antragstellerin zu 1 aufgrund ihrer freizügigkeitsrechtlichen und familiären Situation, insbesondere der Betroffenheit von Kleinkindern, Gewissheit über die weitere Sicherung ihres Lebensunterhaltes haben muss und ihr die Durchführung des Hauptsacheverfahrens ohne Regelungsanordnung nicht zuzumuten ist.

Der Senat hat es in Ausübung des ihm nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO zustehenden Ermessens als ausreichend angesehen, den Beigeladenen durch einstweilige Anordnung nur dem Grunde nach zu verpflichten und ihm die konkrete Berechnung der den Antragstellerinnen vorläufig zu gewährenden Leistungen zu überlassen. Da es sich bei einer einstweiligen Anordnung in der Regel – wie auch hier – um eine vorläufige Regelung handelt, die sich auf einen begrenzten Zeitraum bezieht, nach dem die Sachlage erneut zu bewerten ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9.6.2020 – 1 BvR 1182/20 – juris Rn. 4), erstreckt sie sich auf den Zeitraum ab dem Eingang des Eilantrags beim SG am 23.7.2021 bis zur Entscheidung des Beigeladenen über den Widerspruch der Antragstellerinnen gegen seinen Ablehnungsbescheid vom 7.10.2021. Der Senat hat zusätzlich eine fixe Begrenzung der Anordnung bis zum 28.2.2022 als zweckdienlich erachtet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.

Beglaubigt Celle, 21.10.2021