LSG Nsd.-Bremen, Beschluss vom 14.04.2015 – L 8 SO 54/15 B ER

LANDESSOZIALGERICHT
NIEDERSACHSEN-BREMEN

BESCHLUSS

L 8 SO 54/15 B ER
S 15 SO 31/15 ER Sozialgericht Bremen

In dem Beschwerdeverfahren

1. P. K., Bremen
2. S. K., Bremen
3. M. K., Bremen
4. N. K., Bremen
– Antragsteller und Beschwerdeführer –

Prozessbevol Imächtigte:
zu 1-4: Rechtsanwälte Beier & Beier, Gröpelinger Heerstraße 387,28239 Bremen

gegen

Stadtgemeinde Bremen, vertreten durch die Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frau¬en, Bahnhofsplatz 29, 28195 Bremen
– Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin –

beigeladen:

Jobcenter Bremen Geschäftsstelle Mitte, Doventorsteinweg 48 – 52, 28195 Bremen

hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 14. April 2015 in Celle durch den Richter Scheider, die Richterin Höfer und den Richter Wibbelt beschlossen:

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 23. Februar 2015 geändert.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit vom 1. Februar 2015 bis zum 31. März 2015 vorläufig Leistungen in Höhe von 1.368,00 € monatlich unter Anrechnung der für diesen Zeitraum bereits erbrachten Leistungen und für die Zeit ab dem 1. April 2015 bis zum Eintritt der Bestandskraft des Ablehnungsbescheides der Antragsgegnerin vom 15. Januar 2015, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2015 vorläufig Leistungen in Höhe von 801,00 € monatlich zu gewähren.

Die Antragsgegnerin erstattet die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.

Gründe

I.

Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes lebensunterhaltssichernde Leistungen.

Der 1975 geborene Antragsteller zu 1, der die kroatische Staatsangehörigkeit besitzt, reiste im Januar 2014 nach Deutschland ein. Seine 1979 geborene Lebensgefährtin und die 2009 und 2010 geborenen Kinder – die Antragsteller zu 2 bis 4 – besitzen ebenfalls die kroatische Staatsangehörigkeit und reisten im Juli 2014 nach Deutschland ein. Der Antragsteller zu 1, der vom 27. Februar bis zum 8. Juli 2014 eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Mitarbeiter eines Schnellrestaurants ausgeübt hatte, nahm zum 1. August 2014 erneut – bei einer anderen Arbeitgeberin – eine Beschäftigung als Schnellrestaurantmitarbeiter auf. Das Arbeitsverhältnis, für das eine Arbeitsgenehmigung nicht erteilt wurde, war bis zum 28. Februar 2015 befristet; nach dem schriftlichen Arbeitsvertrag belief sich die monatliche Arbeitszeit auf in der Regel 80 Stunden. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 28. Oktober 2014 zum „5. Oktober 2014″; der Antragsteller zu 1 hat insoweit im Rahen eines beim Sozialgericht (SG) Bremen geführten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (- S 22 AS 2209/14 ER -) angegeben, seine Beschäftigung habe am 26. Oktober 2014 geendet. Die Antragstellerin zu 2 war ihren Angaben zufolge nach ihrer Einreise – noch im Jahr 2014 – für zwei bis drei Monate als Reinigungskraft beschäftigt; auch hierfür wurde keine Arbeitsgenehmigung erteilt.

Der Beigeladene gewährte dem Antragsteller zu 1 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zunächst für die Zeit von Juli bis Dezember 2014 und den Antragstellern zu 2 bis 4 zunächst für die Zeit von Oktober bis Dezember 2014. Auf den Weitergewährungsantrag bewilligte er den Antragstellern mit Bescheid vom 2. Januar 2015 Leistungen nach dem SGB II lediglich für die Zeit vom 1. bis zum 8. Januar 2015. Den hiergegen erhobenen Widerspruch, mit dem die Antragsteller Leistungen auch für die Zeit ab dem 9. Januar 2015 begehrten, wies der Beigeladene mit Widerspruchsbescheid vom 18. März 2015 mit der Begründung zurück, Leistungen seien nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen, weil sich das Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 1 allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Die Antragsteller haben nach ihrer Mitteilung am 2. April 2015 beim Sozialgericht (SG) Bremen Klage gegen den Bescheid des Beigeladenen vom 2. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2015 erhoben.

Die Antragsteller beantragten am 2. Januar 2015 beim SG, den Beigeladenen im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit von Januar bis Juni 2015 zu verpflichten. Das SG verpflichtete den Beigeladenen mit einer Zwischenentscheidung zur Zahlung von 300,00 € (Beschluss vom 6. Januar 2015). Im Anschluss lehnte das SG den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 28. Januar 2015 ab und verwies zur Begründung darauf, dass die Antragsteller keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hätten, da der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eingreife (- S 6 AS 2/15 ER -). Beschwerde legten die Antragsteller hiergegen nicht ein.

Bereits am 13. Januar 2015 hatten die Antragsteller bei der Antragsgegnerin Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII beantragt. Den Antrag lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 15. Januar 2015 ab. Leistungen seien gemäß § 21 SGB XII ausgeschlossen, weil die Antragsteller nach dem SGB II dem Grunde nach leistungsberechtigt seien; außerdem seien die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII erfüllt, weil sich das Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Der Widerspruch der Antragsteller blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid der Antragsgegnerin vom 6. März 2015). Auch hierzu ist nach Mitteilung der Antragsteller seit dem 2. April 2015 ein Klageverfahren beim SG anhängig.

Die Antragsteller haben am 3. Februar 2015 beim SG einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt und die Gewährung lebensunterhaltssichernder Leistungen durch die Antragsgegnerin begehrt. Sie haben hervorgehoben, dass sie mittellos und daher dringend auf die Leistungen angewiesen seien.

Das SG hat die Antragsgegnerin im Wege der Zwischenentscheidung zur Zahlung von 300,00 € verpflichtet (Beschluss vom 6. Februar 2015). Außerdem hat es die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 23. Februar 2015 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern Hilfe zum Lebensunterhalt ohne Kosten der Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 23. Februar bis zum 8. März 2015 zu gewähren; den weitergehenden Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat das SG abgelehnt. Es fehle überwiegend an einem Anordnungsanspruch, da auf die Antragsteller zu 1 und 2 der Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII anwendbar sei. Dies stehe aber nicht einem sich aus einer verfassungskonformen Auslegung des § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII ergebenden Anspruch entgegen. Vorliegend sei der Bedarf des Lebensunterhalts für einen kurzen Zeitraum bis zu einer Ausreise zu decken. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass Einreise und Verbleib der Antragsteller allein auf ihrem eigenen Willen beruhten; es könne nicht angenommen werden, dass eine Rückkehr nach Kroatien unzumutbar sei.

Die Antragsteller haben gegen den Beschluss vom 23. Februar 2015 am selben Tag Beschwerde eingelegt, mit der sie zum einen Leistungen unter Berücksichtigung von Kosten für Unterkunft und Heizung begehren und zum anderen einen Leistungsanspruch auch für die Zeit ab dem 9. März 2015 verfolgen. Sie sind der Auffassung, dass ihnen vorläufig Leistungen nach dem SGB II zugesprochen werden können, da die Rechtsfrage, ob der Leistungsausschluss für EU-Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, europarechtskonform ist, nicht geklärt sei. Falls keine Leistungen nach dem SGB II zuerkannt würden, seien vorläufig Leistungen nach dem SGB XII zu gewähren. Sie verweisen darauf, dass die Antragsteller zu 3 und 4, die den Kindergarten besuchen, aus ihrem sozialen Umfeld gerissen würden, falls sie gezwungen wären, mit ihren Eltern Deutschland zu verlassen. Sie haben mitgeteilt, dass die Vermieterin der von ihnen bewohnten Wohnung den Mietvertrag wegen bestehender Mietrückstände fristlos gekündigt habe, und haben das Kündigungsschreiben vom 5. März 2015 vorgelegt. Ergänzend weisen sie darauf hin, dass der Energieversorger eine Energiesperre angedroht habe.

Die Antragsteller haben zuletzt mitgeteilt, dass der Antragsteller zu 1 am 10. April 2015 erneut eine Beschäftigung als Mitarbeiter eines Schnellrestaurants aufgenommen hat, und haben den schriftlichen Arbeitsvertrag vorgelegt, wonach die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 20 Stunden beträgt. Sie sind der Auffassung, dass der Antragsteller zu 1 nunmehr Arbeitnehmer im Sinne der Rechtsprechung des EuGH sei und ihnen daher Ansprüche nach dem SGB II zustehen.

Die Antragsgegnerin hält die Beschwerde für unbegründet. Im Hinblick auf die kurze Dauer des Aufenthalts in Deutschland sei eine Rückkehr nach Kroatien zumutbar.

Der Beigeladene verweist darauf, dass Ansprüche nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen seien.

II.

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 SGG) ist insoweit begründet, als die Antragsgegnerin zur Gewährung weiterer Leistungen nach dem SGB XII zu verpflichten ist.

Eine Verpflichtung des Beigeladenen zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II kommt nicht in Betracht. Grundsätzlich ist zwar auch in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine Verpflichtung des Beigeladenen gemäß § 75 Abs. 5 SGG zulässig. Vorliegend ist eine Verpflichtung des Beigeladenen aber jedenfalls wegen der Rechtskraft des Beschlusses des SG vom 28. Januar 2015 (- S 6 AS 2/15 ER -) ausgeschlossen, mit dem der auf die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit von Januar bis Juni 2015 gerichtete Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt worden ist. Der Beschluss über die Ablehnung eines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist der Rechtskraft fähig; ein neuer Antrag ist nur zulässig, wenn sich nachträglich die Sach- oder Rechtslage geändert hat (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 86b Rn. 45a). Für eine nach Zustellung des Beschlusses vom 28. Januar 2015 eingetretene relevante Änderung der Sach- oder Rechtslage liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte vor. Insbesondere kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass durch die Beschäftigungsaufnahme des Antragstellers zu 1 am 10. April 2015 eine maßgebliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist (siehe unten).

Die Antragsgegnerin ist im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen nach dem SGB XII im tenorierten Umfang zu gewähren.

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Ein Anordnungsanspruch ist dann gegeben, wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch dem Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht, wenn also eine Vorausbeurteilung der Hauptsacheklage nach summarischer Prüfung ergibt, dass das Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache überwiegend wahrscheinlich ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – NVwZ 2005, 927) dürfen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für Anfechtungs- und (wie hier) Vornahmesachen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) stellt jedoch besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. In einem solchen Fall müssen die Gerichte nach der vorgenannten Entscheidung des BVerfG, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller des Eilverfahrens nicht überspannen; Fragen des Grundrechtsschutzes sind einzubeziehen. Ist dem Gericht hingegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundrechtlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG, ebenda; vgl. auch Senatsbeschluss vom 9. Februar 2015 – L 8 SO 9/15 B ER -).

Nach diesen Maßgaben entscheidet der Senat auf Grund einer Folgenabwägung, weil nach dem derzeitigen Sachstand nicht geklärt ist, ob und inwieweit der Antragsgegnerin bei der Entscheidung über die Leistungshöhe ein Ermessen zusteht. Einen Leistungsanspruch nach dem SGB XII haben die Antragsteller dem Grunde nach glaubhaft gemacht.

Nach summarischer Prüfung ist die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII nicht durch § 21 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen, wonach Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten. Der Senat hat bereits entschieden und hält daran fest, dass ein Hilfesuchender dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II ist, wenn die Leistungsvoraussetzungen nach den §§ 7 ff SGB II erfüllt sind und kein Leistungsausschluss nach dem SGB II eingreift (Senatsbeschluss vom 23. Mai 2014 – L 8 SO 129/14 B ER -). Eine dem Grunde nach bestehende Leistungsberechtigung nach dem SGB II kann vorliegend schon deswegen nicht angenommen werden, weil das SG im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes den auf die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II gerichteten Antrag mit rechtskräftigem Beschluss vom 28. Januar 2015 (- S 6 AS 2/15 ER -) abgelehnt hat. Daher kann im Rahmen des vorliegenden Verfahrens die Rechtmäßigkeit des Bescheides des Beigeladenen vom 2. Januar 2015, soweit hiermit Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab dem 9. Januar 2015 abgelehnt worden sind, offen bleiben.

Eine Leistungsberechtigung der Antragsteller nach dem SGB XII ist durch § 23 Abs. 3 SGB XII jedenfalls nicht vollständig ausgeschlossen, auch wenn vieles dafür spricht, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Anspruchsausschlusses gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII erfüllt sind, weil sich das Aufenthaltsrecht der Antragsteller zu 1 und 2 allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergeben dürfte.

Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind gemäß § 2 Abs. 2 Nr. la FreizügG/EU Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Es ist davon auszugehen, dass der Anwendung dieser Vorschrift § 13 FreizügG/EU nicht entgegensteht. Die Anwendbarkeit des FreizügG/EU auf kroatische Staatsangehörige wird durch § 13 FreizügG/EU nicht insgesamt ausgeschlossen, sondern lediglich eingeschränkt („soweit“). Kroatische Staatsbürger können das Freizügigkeitsrecht zur Arbeitsuche in Anspruch nehmen (Kurzidem in: BeckOK, Ausländerrecht, 6. Edition 2015, § 13 Frei¬zügG/EU Rn. 12; vgl. zu den für rumänische und bulgarische Staatsangehörige bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Einschränkungen: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 16. Januar 2009 – 19 C 08.3271 – juris Rn. 6). Die Antragsteller zu 1 und 2 haben außerdem glaubhaft gemacht, dass sie die tatsächlichen Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 a FreizügG/EU erfüllen.

Auf eine nähere Prüfung kann im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verzichtet werden, zumal auch die Antragsgegnerin und der Beigeladene von einem sich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebenden Aufenthaltsrecht ausgehen.

Es kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragsteller zu 1 und 2 ein weiteres Aufenthaltsrecht haben. Insbesondere ist im Hinblick auf die fehlende Erteilung einer Arbeitsgenehmigung-EU gemäß § 284 SGB III bisher nicht ersichtlich, dass der Antragsteller zu 1 oder die Antragstellerin zu 2 ein Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU erworben hat, das nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU für sechs Monate fortbestehen könnte. Die Erteilung einer Arbeitsgenehmigung-EU dürfte für kroatische Staatsangehörige grundsätzlich Voraussetzung für ein Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer sein, weil sich aus § 13 FreizügG/EU – in Übereinstimmung mit dem Vertrag der Republik Kroatien zur Europäischen Union – eine entsprechende Einschränkung des Freizügigkeitsrechts ergeben dürfte (Kurzidem, a.a.O, Rn. 10). Es kann offen bleiben, ob ein kroatischer Staatsangehöriger ein Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer auch durch eine Beschäftigung erlangen kann, für die er nach Maßgabe der Arbeitsgenehmigungsverordnung (ArGV) keiner Arbeitsgenehmigung-EU bedarf. Denn konkrete Anhaltspunkte für eine derartige Beschäftigung liegen nicht vor. Es kann nicht angenommen werden, dass die vom Antragsteller in der Zeit vom 1. August bis zum 26. Oktober 2014 ausgeübte Beschäftigung als Mitarbeiter eines Schnellrestaurants eine genehmigungsfreie Saisonbeschäftigung i.S. des § 12e ArGV dargestellt hat. Nach § 12e Satz 1 ArGV bedürfen Personen für eine Beschäftigung in der Land- und Forstwirtschaft, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Obst- und Gemüseverarbeitung sowie in Sägewerken von mindestens 30 Stunden wöchentlich bei durchschnittlich mindestens sechs Stunden arbeitstäglich bis zu insgesamt sechs Monaten im Kalenderjahr keiner Arbeitsgenehmigung-EU. Bei der Beschäftigung des Antragstellers zu 1 fehlte es ausweislich des schriftlichen Arbeitsvertrages, der eine monatliche Arbeitszeit von in der Regel 80 Stunden vorsah, bereits an der erforderlichen Mindestarbeitszeit. Das Gleiche gilt für die zum 10. April 2015 aufgenommene Beschäftigung des Antragstellers zu 1, da die regelmäßige Arbeitszeit nach dem schriftlichen Arbeitsvertrag lediglich 20 Stunden wöchentlich beträgt.

Der Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII betrifft lediglich den Rechtsanspruch auf Leistungen (§ 23 Abs. 1 Satz 1, 2 SGB XII), nicht aber eine Leistungsgewährung im Ermessenswege gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII (so zur Vorgängervorschrift § 120 Abs. 1 BSHG BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 1987 – 5 C 32/85 – juris Rn. 9 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Juli 2014 – L 19 AS 948/14 B ER – juris Rn. 16; Coseriu in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 Rn. 75). Diese Auslegung trägt dem durch Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 GG garantierten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Rechnung, das auch ausländischen Staatsangehörigen, die sich in Deutschland aufhalten, zusteht. Dieses Grundrecht verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss; eine kurze Aufenthaltsdauer oder -perspektive rechtfertigt es nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken (BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 – juris Rn. 94). Ebenso wenig sind migrationspolitische Erwägungen, wonach Anreize für Wanderbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau vermieden werden sollen, geeignet, ein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum zu rechtfertigen, denn die durch Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren (BVerfG, a.a.O. – juris Rn. 95). Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben gelten auch für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Insbesondere kann nicht angenommen werden, dass sie ihr Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums dadurch verlieren, dass sie eine zumutbare Ausreisemöglichkeit nicht wahrnehmen.

Das nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII grundsätzlich eröffnete Ermessen wird durch das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erheblich eingeschränkt. Hinsichtlich der Frage, ob überhaupt eine Leistungsgewährung erfolgt, wenn der notwendige Lebensunterhalt nicht auf andere Weise gesichert werden kann, dürfte das Ermessen regelmäßig auf Null reduziert sein. Allenfalls bezogen auf den Umfang und die Art der Leistungen dürfte ein Ermessenspielraum bestehen (Coseriu, a.a.O., Rn. 76; vgl. auch Greiser, a.a.O., Anhang zu § 23 Rn. 119 ff).

Der von den Antragstellern glaubhaft gemachte ungedeckte Bedarf nach dem Dritten Kapitel des SGB XII beläuft sich im Februar und März 2015 auf jeweils 1.368,00 € monatlich. Für die Antragsteller zu 1 und 2 ist gemäß § 27a Abs. 3 SGB XII i.V.m. Anlage zu § 28 SGB XII jeweils ein Regelsatz nach Regelbedarfsstufe (RBS) 2 in Höhe von 360,00 € und für die Antragsteller zu 3 und 4 jeweils ein Regelsatz nach RBS 6 in Höhe von 234,00 € zu berücksichtigen. Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 35 SGB XII) haben die Antragsteller in Höhe von 548,00 € glaubhaft gemacht; Anhaltspunkte dafür, dass die Kosten unangemessen hoch sind, liegen nicht vor. Auf den Bedarf der Antragsteller zu 3 und 4 ist das für sie gezahlte Kindergeld in Höhe von 184,00 € anzurechnen (§ 82 Abs. 1 Satz 3 SGB XII). Da der Antragsteller zu 3 am 16. März 2009 das sechste Lebensjahr vollendet hat, ist für ihn ab April 2015 ein Regelsatz nach RBS 5 in Höhe von 267,00 € zu berücksichtigen. Zudem ist das Einkommen, das der Antragsteller zu 1 aus der am 10. April 2015 aufgenommenen Beschäftigung erzielt, auf den Bedarf anzurechnen, wobei die genaue Höhe derzeit nicht bekannt ist; zur Vermeidung weiterer Verzögerungen geht der Senat davon aus, dass eine Einkommensanrechnung in Höhe von 600,00 € gerechtfertigt ist (Bruttolohn bei einer arbeitsvertraglichen regelmäßigen monatlichen Arbeitszeit von 90 Stunden und einem Stundenlohn von 8,51 €: 765,90 € monatlich). Somit ergibt sich für die Zeit ab April 2015 ein ungedeckter Gesamtbedarf von 801,00 €.

Es ist derzeit offen, ob und inwieweit die Antragsgegnerin den dargestellten Bedarf ohne Ermessensfehler ungedeckt lassen darf. Insbesondere kann nicht unterstellt werden, dass sie die Übernahme von Kosten für Unterkunft und Heizung mit der Begründung ablehnen darf, die Antragsteller verfügten über keine hinreichende Bleibeperspektive in Deutschland. Abgesehen davon, dass vieles für ein sich aus der Arbeitsuche ergebendes Freizügigkeitsrecht spricht, können sie sich auf die grundsätzliche Freizügigkeitsvermutung zu Gunsten von Unionsbürgern stützen (Dienelt in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 7 FreizügG/EU Rn. 9), die auch zu Gunsten kroatischer Staatsangehöriger eingreift (Kurzidem, a.a.O., Rn. 11). Eine Ausreisepflicht der Antragsteller setzt daher gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Frei¬zügG/EU grundsätzlich die – bisher wohl nicht erfolgte – Feststellung der Ausländerbehörde voraus, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht.

Die vorzunehmende Folgenabwägung rechtfertigt Leistungen in der tenorierten Höhe. Die Leistungsverpflichtung gilt für die Zeit bis zum 30. Juni 2015, weil die Beschränkungen der Freizügigkeitsrechte für kroatische Staatsangehörige möglicherweise zum 1. Juli 2015 entfallen; zu diesem Zeitpunkt – zwei Jahre nach dem Beitritt der Republik Kroatien zur Europäischen Union – ist die erste Phase des sogenannten 2+3+2-Modells abgeschlossen (vgl. Kurzidem, a.a.O., Rn. 3).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

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