OLG Koblenz, Beschluss vom 03.12.2014 – 13 UF 689/14

Titel

Zu den Voraussetzungen für den Entzug der elterlichen Sorge oder von Teilbereichen der elterlichen Sorge im Wege einer einstweiligen Anordnung vor dem Hintergrund der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 

Leitsätze des Verfassers:

Bestimmender Maßstab ist zuvörderst das Kindeswohl. Nur wenn dieses gefährdet ist, darf eine einstweilige Maßnahme ergehen, nicht etwa aus bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen.

Es „kann keine Kindeswohlgefährdung begründen, wenn die Haltung oder Lebensführung der Eltern von einem bestimmten, von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht und nicht die aus Sicht des Staates bestmögliche Entwicklung des Kindes unterstützt (BVerfG, Beschluss vom 19. 11.2014 -1 BvR 1178/14 Rn 29)

Auch die Vorstellung der beteiligten Institutionen (Jugendamt, Ergänzungspfleger) von gelungener Erziehung und Förderung des Kindes darf nicht an die Stelle des Erziehungskonzepts der Mutter gestellt werden, denn dies ist nicht die Aufgabe des staatlichen Wächteramtes.

Oberlandesgericht
Koblenz

Beschluss

In der Familiensache

wegen elterlicher Sorge

hat der 13. Zivilsenat – 1. Senat für Familiensachen – des Oberlandesgerichts Koblenz durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Peters, den Richter am Oberlandesgericht Haupert und den Richter am Oberlandesgericht Oeley am 03.12.2014 beschlossen:

1. Auf die Beschwerde der Mutter werden die Beschlüsse des Amtsgerichts – Familiengerichts – Koblenz vom 25.06.2014 und vom 15.09.2014 aufgehoben.

2. Verfahrenskosten werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

3. Der Wert des Verfahrensgegenstandes beträgt 1.500,00 €.

Gründe:

I.

Die am …1978 geborene Beschwerdeführerin ist die Mutter des am …2002 geborenen Kindes …[A]. Seinen leiblichen Vater kennt das Kind nicht; die Beziehung der Eltern ist seit langem beendet. Nach der Vorstellung des Jugendamtes sollen Umgangskontakte mit dem Vater angebahnt werden.

Das Jugendamt wurde durch eine Meldung der Schule (Gymnasium …[B]) auf Schwierigkeiten mit …[A] aufmerksam. Die Mutter verweigere jegliche Zusammenarbeit und schotte …[A] von den Mitschülern ab. Das Kind sei im Gymnasium überfordert und habe äußerst schlechte Noten. Man habe deshalb eine Empfehlung für die Realschule plus ausgesprochen, deren Entgegennahme die Mutter aber verweigert habe.

Bereits …[A]s Abschlusszeugnis der Grundschule (Bl. 7 ff. GA) war nicht sonderlich positiv. …[A] besuchte nach der Grundschule zunächst das …[C] Gymnasium in …[Z] und wechselte dann – wie sie und die Mutter erklären, weil sie in …[Z] gemobbt worden sei – zum Gymnasium auf dem …[B] in …[Y], wo aber ebenfalls wegen der schlechten Noten ein Wechsel an die Realschule nahegelegt wurde.

Das Jugendamt setzte in der Folge Familienhelfer ein, weil die – neubezogene – Wohnung der Familie weitgehend nicht eingerichtet war. Die Mutter, die sich eine aktive Mithilfe bei der Einrichtung der Wohnung erwartet hatte, nicht lediglich eine beratende Unterstützung, verweigerte jegliche Zusammenarbeit.

Dies und die schulischen Aspekte veranlassten das Jugendamt, den Entzug der elterlichen Sorge im Wege der einstweiligen Anordnung zu beantragen.

Durch Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Koblenz vom 25.6.2014 wurde aufgrund des Antrags im Wege der einstweiligen Anordnung zunächst ohne mündliche Verhandlung der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht zur Regelung der ärztlichen Versorgung und der Zuführung zu medizinischen Behandlungen, das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen und das Recht zur Regelung der Ausbildungs– und Berufswahl für das Kind entzogen und auf das Jugendamt als Ergänzungspfleger übertragen. …[A] wurde in der Folge in einer stationären Kinder und Jugendhilfeeinrichtung in …[X] untergebracht, wo sie sich heute noch befindet. Auf Veranlassung des Jugendamtes wechselte sie zur örtlichen Realschule plus. Hier sind ihre Schulleistungen inzwischen deutlich besser als zuvor.

Nach Bestellung eines Verfahrensbeistandes und Anhörung der Beteiligten, auch des Kindes, in der Sitzung vom 9.9.2014 bestätigte das Amtsgericht durch den angefochtenen Beschluss seiner Entscheidung vom 25.6.2014, entzog der Mutter zusätzlich das Recht zur Regelung des Umgangs mit dem leiblichen Vater und übertrug dieses ebenfalls auf das Jugendamt. Die Maßnahmen seien wegen einer Gefährdung des Kindeswohls notwendig. Die Teilbereiche der elterlichen Sorge könnten nicht, wie seitens der Mutter angeregt, auf die Großmutter übertragen werden. Auch hinsichtlich deren Erziehungsfähigkeit bestünden Bedenken.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Mutter mit ihrer Beschwerde. Sie rügt, das Amtsgericht beachte nicht den eindeutig geäußerten Kindeswillen. …[A] wolle zur Mutter zurück, zumindest aber zur Großmutter. Die Begründung des Amtsgerichts, Mutter und Großmutter überforderten …[A] (hinsichtlich der Schule), rechtfertigte die getroffenen Maßnahmen nicht. Die Entscheidung sei unverhältnismäßig. Zumindest aber hätte die Großmutter zur Ergänzungspflegerin bestellt werden müssen. Hier sei …[A] in einem intakten Familienverband gut versorgt.

Der Senat hat das Kind und die übrigen Beteiligten angehört. Seitens des Jugendamtes nahm lediglich der mit der Aufgabe des Ergänzungspflegers betraute Mitarbeiter am Termin teil.

Im inzwischen eingeleiteten Hauptsacheverfahren hat das Amtsgericht ein Gutachten zur Erziehungsfähigkeit der Mutter in Auftrag gegeben, das noch nicht vorliegt.

II.

Die Beschwerde ist nach § 57 Nr.1 FamFG zulässig. Es handelt sich um eine Entscheidung, mit der nach mündlicher Erörterung im Wege der einstweiligen Anordnung über Teile der elterlichen Sorge entschieden wurde.

Die Beschwerde ist auch begründet. Die Voraussetzungen für einen Entzug nahezu der gesamten Personensorge für …[A] im Wege der einstweiligen Anordnung liegen nicht vor.

1. In Verfahren nach § 1666 BGB kann im Einzelfall eine vorläufige Maßnahme erforderlich werden, die vom Entzug der elterlichen Sorge insgesamt bis zu Übertragung einzelner Bestandteile auf einen Dritten, häufig das Jugendamt, reichen kann. Bestimmender Maßstab ist auch hier zuvörderst das Kindeswohl. Nur wenn dieses gefährdet ist, darf eine einstweilige Maßnahme ergehen, nicht etwa aus bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen.

a. Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, zuletzt im Beschluss vom 19. November 2014 (1 BVR 1178/14), dass Art. 6 Abs. 3 GG es nur dann erlaube, „ein Kind von seinen Eltern gegen deren Willen zu trennen, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Dabei berechtigt nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 S.2 GG zukommenden Wächteramtes die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder selbst diese Aufgabe zu übernehmen. Es gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei den Eltern in seinen körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit vorhersehen lässt“ (Rn 23).

b. Bei einer Entscheidung im Wege einer Eilmaßnahme ist zudem darauf zu achten, zum einen nicht ohne zwingenden Grund überhaupt eine Anordnung zu erlassen, zum anderen möglichst nicht im Eilverfahren vollendete Tatsachen zu schaffen. Je schwerer die dem Einzelnen auferlegte Belastung wiegt und je mehr die Maßnahme Unabänderliches bewirkt, umso gesicherter muss die Tatsachengrundlage des Grundrechtseingriffs sein. Weil bereits der vorläufige Entzug des Sorgerechts einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der Eltern und des Kindes darstellt und weil schon die vorläufige Herausnahme des Kindes aus der Familie Tatsachen schaffen kann, welche später nicht ohne Weiteres rückgängig zu machen sind, sind grundsätzlich auch bei einer Sorgerechtsentziehung im Eilverfahren hohe Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung zu stellen (BVerfG FamRZ 2014, 907 Rn 21 ff). Regelmäßig hat das Gericht auch im Eilverfahren sämtliche Ermittlungsmöglichkeiten auszuschöpfen, wenn es um einen derart gravierenden Eingriff wie die Trennung des Kindes von den Eltern geht. Dabei sind die Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung umso höher, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden des Kindes wiegt und in je größerer zeitlicher Ferne der zu erwartende Schadenseintritt liegt (BVerfG, a.a.O., Rn 20, 23).

2. Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des Amtsgerichts nicht gerecht. Erst recht ist nicht ersichtlich, warum mit der Entscheidung nicht bis zum Vorliegen des in der Hauptsache in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens abgewartet werden konnte. Auch die mündliche Anhörung der Beteiligten vor dem Senat, insbesondere auch des Jugendamtes als Antragsteller, hat keine Gesichtspunkte ergeben, die die getroffene Maßnahme rechtfertigen könnten.

a. Das Amtsgericht hat seine ursprüngliche Entscheidung im wesentlichen darauf gestützt, die Mutter nehme die vom Jugendamt angebotenen Hilfen, die von allen Beteiligten als erforderlich angesehen würden, nicht in Anspruch und überfordere ihr Kind psychisch mit dem Besuch einer für dieses nicht passenden Schulform und sei auch nicht bereit mit der sozialpädagogischen Familienhilfe zusammenzuarbeiten. In der endgültigen Entscheidung vom 15.9.2014 nimmt das Amtsgericht auf die Ausgangsentscheidung Bezug. Im übrigen enthält der Beschluss nur Ausführungen dazu, warum die entzogenen Teilbereiche der elterlichen Sorge nicht auf die Großmutter zu übertragen seien, weil nämlich diese ebenfalls zu schulischer und sonstiger Überforderung des Kindes zu neigen scheine. Selbst unterstellt, diese Gesichtspunkte rechtfertigten an sich einen teilweisen Entzug der elterlichen Sorge, so stellen sie nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen Grund dar für den Entzug im Wege der einstweiligen Anordnung ohne weitere Ermittlungen, insbesondere vor Vorliegen des Mitte des Jahres in Auftrag gegeben Gutachtens. Denn eine Gefährdung des Kindes liegt hier auch nach der Argumentation des Amtsgerichts nicht akut vor, sondern baut sich erst allmählich auf in der Verfestigung dieser – vom Amtsgericht als negativ dargestellten – Lebenseinstellung der Mutter auch beim Kind. Das heißt, wenn eine Schädigung eintritt, so erst im Laufe der Zeit.

b. Bei der mündlichen Anhörung hat der Vertreter des Jugendamtes ausgeführt, er halte nach wie vor eine Gefährdung von …[A] für gegeben. Allerdings sei die Wohnsituation bei der Mutter inzwischen in Ordnung gebracht; die Wohnung sei adäquat eingerichtet. Konkrete Hinweise auf eine akute Kindeswohlgefährdung konnte er nicht geben. Die Einschätzung einer Gefährdung wurde vom Jugendamt, soweit ersichtlich, vor allem aus der schulischen Situation, der fehlenden Wohnungseinrichtung und generell aus dem abweisenden Verhalten der Mutter hergeleitet. Das rechtfertigt jedoch kein Eingreifen im Wege der einstweiligen Anordnung.

c. Rechtsanwältin … als Verfahrensbeistand gab zu bedenken, dass, auch wenn …[A] dies anders schildere, durch die Unterbringung in der Jugendhilfe-Einrichtung und den Schulwechsel inzwischen eine gewisse Beruhigung und eine deutliche Besserung ihrer schulischen Leistungen eingetreten seien. Eine eventuelle Gefährdung sehe sie in der „elitären“ Haltung des Kindes, das sich in der Einrichtung von lauter „Assis“ umgeben sehe und zudem meine, das Anforderungsprofil der Realschule entspreche ihr nicht (Auch gegenüber dem Senat äußerte sich …[A] entsprechend). Zu befürchten sei bei ihr eine zunehmende soziale Inkompetenz. Schließlich sei erkennbar, dass …[A] sich offensichtlich auch für die Mutter verantwortlich fühle. Auch dies mag zutreffend sein. Eine Gefährdung im Sinne von § 1666 BGB lässt sich hieraus aber nicht ableiten, erst recht keine akute Gefährdung, (wobei der Verfahrensbeistand seine Äußerungen auch nicht in diesem Sinne verstanden wissen wollte).

3. Ausgehend hiervon ist ein Entzug auch nur von Teilbereichen der elterlichen Sorge gegenwärtig nicht gerechtfertigt. Es ist – nach dem Eindruck, den der Senat in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat – wohl zutreffend, dass die Mutter in einem recht starren Weltbild befangen ist und auch eine Zusammenarbeit mit dem Jugendamt sich äußerst schwierig gestaltet. Eine solche Haltung könnte allenfalls dann eine Entzug der elterlichen Sorge rechtfertigen, wenn sie Krankheitswert erreichte, und zwar das Kindeswohl gefährdenden Krankheitswert. Das wird nirgendwo behauptet und ist erst recht nicht in irgendeiner Weise festgestellt. Es scheint auch zutreffend zu sein, dass …[A] in schulischer Hinsicht sich selbst nicht zutreffend einschätzt und folglich überfordert. Zumindest legen die vorliegenden Schulzeugnisse und Beurteilungen dies bei aller Relativität von Schulnoten nahe. Sie wird von ihrer Mutter nicht zu einem gelasseneren Umgang mit schulischen Belangen angehalten. Schließlich mag auch das auf eine gewisse elitäre Position abzielende Selbstverständnis der Mutter, die andererseits, soweit erkennbar, beruflich nicht sonderlich erfolgreich ist, nicht wünschenswert sein. All dies reicht – einmal abgesehen davon, dass es sich um zwar naheliegende Vermutungen, nicht aber um gesicherte Fakten handelt – für den hier vorliegenden massiven Eingriff in das Elternrecht nicht ansatzweise aus. Vielmehr liegt nahe, dass hier die Vorstellung der beteiligten Institutionen von gelungener Erziehung und Förderung des Kindes an die Stelle des Erziehungskonzepts der Mutter gestellt wird. Gerade dies ist, wie das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont, nicht Aufgabe des staatlichen Wächteramtes. Auch der Senat hält es für nicht unwahrscheinlich, dass der Erziehungsstil der Mutter, ihre Einstellungen, ihr Weltbild – jedenfalls so, wie sie sich (in erster Näherung) aus ihrer Anhörung und der …[A]s ergaben – einer freien und möglichst unbeschwerten Entwicklung des Kindes nicht dienlich sind. Es liegt jedoch im Rahmen der primären Erziehungszuständigkeit der Mutter, wie und mit welchen Mitteln und zu welchem Ziele sie ihr Kind erzieht, solange damit keine Gefährdung dessen körperlicher, geistiger oder seelischer Integrität einhergeht. Es „kann keine Kindeswohlgefährdung begründen, wenn die Haltung oder Lebensführung der Eltern von einem bestimmten, von Dritten für sinnvoll gehaltenen Lebensmodell abweicht und nicht die aus Sicht des Staates bestmögliche Entwicklung des Kindes unterstützt (BVerfG, a.a.O., Beschluss vom 19. 11.2014 -1 BvR 1178/14 Rn 29).

4. Da die Entscheidung des Amtsgerichts insgesamt aufzuheben ist, kann dahinstehen, ob nicht das Amtsgericht bei der Auswahl des Ergänzungspflegers die Großmutter hätte berücksichtigen müssen (vgl. hierzu etwa BVerfG FamRZ 2014, 964).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 FamFG.

Erlass des Beschlusses (§ 38 Abs. 3 Satz 3 FamFG):
Übergabe an die Geschäftsstelle
am 04.12.2014.

Aktenzeichen:
13 UF 689/14
191 F 334/14 AG Koblenz

Quelle: Justiz Rheinland-Pfalz

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