Verfassungsrecht: Wann liegt ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör und das Willkürverbot vor?

1. Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)

Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten ein Recht darauf, dass er Gelegenheit erhält, im Verfahren zu Wort zu kommen, namentlich sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern, Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen. Dem entspricht die grundsätzliche Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen

vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 17.05.1983, BVerfGE 64, 135/143; BVerfG, Beschluss vom 02. April 2015 – 1 BvR 470/15.

Allerdings sind die Feststellung des Sachverhaltes und die Würdigung der Beweise grundsätzlich einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; dies ist allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte. Deshalb vermag auch die Behauptung, das Gericht habe einem tatsächlichen Umstand nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen oder das Gericht habe es versäumt, Beweis zu erheben, im Regelfall keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu begründen

BVerfG, Beschl. v. 02.12.1969, BVerfGE 27, 248/251 u.ö.

Im Übrigen ist die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen. Art. 103 Abs. 1 GG gewährt deshalb keinen Schutz dagegen, dass das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des materiellen oder formellen Rechts unberücksichtigt lässt; das gilt auch und gerade für die angebotenen Beweismittel

BVerfG, Beschl. v. 15.02.1967, BVerfGE 21, 191/194; st. Rspr., BVerfG, Urt. v. 08.07.1997, BVerfGE 96, 205/216.

Schließlich ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegen genommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Gerichte sind deshalb nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Das Bundesverfassungsgericht kann aus diesem Grunde nur dann feststellen, dass eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG vorliegt, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergibt, dass das Gericht seiner Pflicht, den Vortrag der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, nicht nachgekommen ist

 st. Rspr., zuletzt: BVerfG, Urt. v. 08.07.1997, BVerfGE 96, 205/217.

Geht allerdings das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein oder lässt es etwa einen formell ordnungsgemäßen Beweisantrag unberücksichtigt, so lässt dies tatsächlich darauf schließen, dass das Gericht den Vortrag nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat, es sei denn, der Vortrag ist nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert

BVerfG, Beschl v. 01.02.1978, BVerfGE 47, 182/189; Beschl. v. 19.05.1992, BVerfGE 86, 133/146.

Im Beschluss vom 24.08.2015 hat das BVerfG zur Frage Stellung genommen, ob es einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör darstellt, wenn das Gericht einer begehrten mündlichen Anhörung des Sachverständigen, dessen Gutachten dem Gericht überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint, nicht anhört.

Beschluss vom 24. August 2015 – 2 BvR 2915/14

Hierzu hat das BVerfG ausgeführt:

Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst grundsätzlich auch die Anhörung gerichtlicher Sachverständiger (BVerfGK 20, 218 <224>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 1998 – 1 BvR 909/94 -, a.a.O.; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Januar 2012 – 1 BvR 2728/10 -, a.a.O., Rn. 13).

Nach § 402 in Verbindung mit § 397 ZPO sind die Parteien berechtigt, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten. Der Bundesgerichtshof hat daraus in ständiger Rechtsprechung die Pflicht der Gerichte abgeleitet, dem Antrag einer Partei auf mündliche Befragung gerichtlicher Sachverständiger stattzugeben (vgl. BGHZ 6, 398 <400 f.>; BGH, Urteile vom 21. Oktober 1986 – VI ZR 15/85 -, NJW-RR 1987, S. 339 <340> und vom 17. Dezember 1996 – VI ZR 50/96 -, NJW 1997, S. 802 f.). Auf die Frage, ob das Gericht selbst das Sachverständigengutachten für erklärungsbedürftig hält, komme es nicht an. Es gehöre zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs, dass die Parteien den Sachverständigen Fragen stellen, ihnen Bedenken vortragen und sie um eine nähere Erläuterung von Zweifelspunkten bitten können (vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 1986, a.a.O.). Ein Antrag auf Anhörung des Sachverständigen könne allerdings dann abgelehnt werden, wenn er verspätet oder rechtsmissbräuchlich gestellt werde (vgl. BGHZ 35, 370 <371>; BGH, Urteile vom 21. Oktober 1986, a.a.O., und vom 17. Dezember 1996, a.a.O.; vgl. auch zur Rechtsprechung der übrigen obersten Bundesgerichte BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 1998, a.a.O., S. 2273 f.).

Beachtet ein Gericht diese verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht, so liegt darin jedenfalls dann ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es einen Antrag auf Erläuterung des Sachverständigengutachtens völlig übergeht oder ihm allein deshalb nicht nachkommt, weil das Gutachten ihm überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint. Dagegen verlangt Art. 103 Abs. 1 GG nicht, einem rechtzeitigen und nicht missbräuchlichen Antrag auf Anhörung der Sachverständigen ausnahmslos Folge zu leisten. Die mündliche Anhörung des Sachverständigen ist zwar die nächstliegende, aber nicht die einzig mögliche Behandlung eines derartigen Antrags (vgl. BVerfGK 20, 218 <225>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 1998, a.a.O., S. 2274; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Januar 2012, a.a.O., Rn. 15). In Betracht kommt etwa, den Sachverständigen stattdessen um eine schriftliche Ergänzung seines Gutachten zu bitten oder aber ein weiteres Gutachten (eines anderen Sachverständigen) einzuholen (vgl. BVerfGK 20, 319 <320>; BGH, Urteil vom 10. Dezember 1991 – VI ZR 234/90 -, NJW 1992, S. 1459 f.).

Erfahren die Parteien erst im Urteil von einer bis dahin nicht erörterten Fallbewertung des Gerichts, stellt dies einen groben Verfahrensfehler dar. Insoweit darf die Entscheidung des Gerichts  keinesfalls auf einen Sachverhalt gestützt werden, den keine der Parteien zuvor vorgetragen oder auf den das Gericht nicht zuvor hingewiesen hat. Bei einem insoweit unterlassenen gebotenen richterlichen Hinweis stellt sich das Urteil als  Überraschungsentscheidung dar, so dass das gerichtliche Verfahren auf einem gravierenden Verfahrensmangel beruht.  Denn dadurch wurde den Parteien z.B. die Möglichkeit genommen, durch eine formale Erweiterung des Klageantrags eine Fortsetzung des Prozesses durch Abschluss der eingeleiteten Beweisaufnahme zu bewirken.

Darin liegt ein Verstoß gegen die in § 139 Abs. 2 ZPO normierte Hinweispflicht und eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs. 1 GG. Dieses Grundrecht garantiert den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, sich vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern. Dazu muss der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermögen, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann

 vgl. BVerfGE 84, 188, 190.

Ein Gericht verstößt daher jedenfalls dann gegen Art 103 Abs. 1 GG und das Gebot eines fairen Verfahrens, wenn es ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag bzw. eine Antragstellung stellt oder auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte

BVerfG, Kammerbeschluss vom 14.10.2010 – 2 BvR 409/09 – juris Rn 20 mit Hinweis auf BVerfGE 86, 133, 144 f.

Es stellt einen groben Verfahrensfehler dar, wenn die Parteien erst im Urteil von einer bis dahin nicht erörterten Fallbewertung des Gerichts erfahren

BGH NJW 1989, 2756 f. = juris Rn 8; 1993, 667 f.

Keinesfalls darf die Entscheidung auf einen Sachverhalt oder einen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt werden, den keine der Parteien zuvor vorgetragen oder auf den das Gericht nicht zuvor hingewiesen hat.

OLG Köln, Urteil vom 30.07.2014 – 17 U 62/13.

 Dies gilt erst recht, wenn das Gericht zuvor für die Parteien erkennbar eine andere Rechtsauffassung vertreten hat

vgl. BGH Beschluss vom 29. April 2014 – VI ZR 530/12 –; BGH, Beschluss vom 4. Mai 2011 – XII ZR 86/10, NJW-RR 2011, 1009; BVerfG, NJW 1996, 3202, juris Rn. 22 f.

In verfahrensmäßiger Hinsicht ist zu beachten, dass ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör nur dann verfassungsrechtlich gerügt werden kann, wenn zuvor ein sog. Anhörungsrügeverfahren gem. § 321 a ZPO durchgeführt wurde. Unterbleibt dies, wurde der Rechtsweg nicht erschöpft und die Verfassungsbeschwerde ist (zumeist insgesamt) unzulässig (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG).

2. Verstoß gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG)

Eine Verletzung des Willkürverbots als Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes gem. Art. 3 Abs. 1 GG (ggf. i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG) kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur dann angenommen werden, wenn ein Richterspruch unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht.  „Willkür“ liegt vielmehr erst dann vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird

vgl. BVerfGE 89, 1 <13 f.>; 96, 189, 203; BVerfG, 1 BvR 735/09 vom 12.10.2009; BVerfG, Beschluss vom 03. März 2015 – 1 BvR 3271/14.

Von willkürlicher Missdeutung kann dagegen nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage auseinandergesetzt hat und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt. Insoweit machen die Abweichung von der herrschenden Rechtsprechung oder selbst die zweifelsfrei fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich

BVerfG, Beschl. v. 01.10.2009, Az.: 1 BvR 1969/09.

Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gegenüber Entscheidungen der Fachgerichte unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes in seiner Bedeutung als Willkürverbot kommt danach nicht schon bei jedem Fehler in der Rechtsanwendung, sondern nur in seltenen Ausnahmefällen, also etwa bei Vorliegen einer krassen Fehlentscheidung, in Betracht

BVerfG, Beschl. v. 01.07.1954, BVerfGE 4, 1/7 f.; st. Rspr., zuletzt etwa: BVerfG, Beschl. v. 07.04.2000, NJW 2000, 2494; BVerfG, Beschluss vom 15.12.2008 – 1 BvR 1404/04 –

Denn das Bundesverfassungsgericht ist nicht dazu berufen, Entscheidungen anderer Gerichte einer allgemeinen inhaltlichen Nachprüfung zu unterziehen. Auch rechtfertigt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht jedes unsorgfältige Arbeiten der Gerichte das Verdikt der Willkür im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG

BVerfG, Beschl. v. 03.11.1992, BVerfGE 87, 282/286.

Das gilt nicht nur bei der Auslegung und Anwendung des materiellen Rechts, sondern auch für die Handhabung des Verfahrensrechts. Das Verfahrensrecht dient der Herbeiführung gesetzmäßiger und unter diesem Blickpunkt richtiger, aber darüber hinaus auch im Rahmen dieser Richtigkeit gerechter Entscheidungen. Es hält daher dem Richter im Interesse einer dem jeweiligen Verfahrensgegenstand angemessenen Prozedur zwar in weiten Bereichen Ermessens- und Beurteilungsspielräume zur Leitung, Förderung und Ausgestaltung der Verfahrensgänge offen. §§ 139, 287 ZPO sind hierfür nur ein Beispiel von mehreren. Von „willkürlicher“ Handhabung speziell dieser dem Gericht von vornherein eine weitgespannte Ermessens- und Beurteilungsbefugnis einräumenden Bestimmungen kann deshalb – ausnahmsweise – nur dann ausgegangen werden, wenn sich der Schluss auf sachfremde Erwägungen des Richters bei der Wahrnehmung dieser Befugnisse regelrecht aufdrängt

 vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.03.1976, BVerfGE 42, 64/74; Beschl. v. 09.11.1987, NJW 1988, 1456/1458; Beschl. v. 13.08.1997, NJW 1998, 369.

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