VG Freiburg, Beschluss vom 02.10.2013 – 4 K 1168/13 –

1. Liegen gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vor, ist das Jugendamt berechtigt, angemeldete oder unangemeldete Hausbesuche durchzuführen.

2. Die Durchführung von Hausbesuchen ist keine allgemeines materielles Instrument der Jugendhilfe. (Leitsätze der Redaktion)

Zum Sachverhalt

Die Ast. beantragte Prozesskostenhilfe für eine Klage mit den Hauptanträgen, es der Ag. zu untersagen, (1) bei der Ast. unangekündigte Hausbesuche, hilfsweise öfter als ein Mal pro Quartal unangekündigte Hausbesuche durchzuführen, sowie (2) bei der Ast. angekündigte Hausbesuche, hilfsweise ein Mal pro Jahr angekündigte Hausbesuche durchzuführen.

Mit weiterem Hilfsantrag begehrte die Ast. Entsprechende Untersagungen, wenn von der Ag. konkrete Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung nicht benannt werden können.

Das VG lehnte den Antrag überwiegend ab.

Aus den Gründen

1. (…) Allerdings spricht nach Auffassung der Kammer ganz Überwiegendes dafür, dass der Ast. der Sache nach kein Anspruch darauf zusteht, dass die Kammer gegenüber der Ag. die begehrten Untersagungen ausspricht.

Rechtsgrundlage für die Durchführung von Hausbesuchen durch die Ag. ist § 8 a I 1, 2 SGB VIII. Die Regelung des § 8 a I SGB VIII ist Ausfluss des aus dem staatlichen Wächteramt (Art. 6 II 2 GG) abgeleiteten Schutzauftrags des Jugendamts

 vgl. nur Hauck, SGB VIII,  Stand 6/2013, K § 8 a Rn. 1 mwN; VG Köln, Beschl. v. 28.2.2012 – 26 L 203/12, BeckRS 2012, 49469

und enthält die Verpflichtung des Jugendamts, tätig zu werden, wenn ihr gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung bekannt werden. Zunächst hat daher das Jugendamt die ihm vorliegenden Anhaltspunkte daraufhin zu bewerten, ob sie als „gewichtig“ im Sinne des Gesetzes einzustufen sind. Ist dies der Fall, hat das Jugendamt gemäß Satz 1 der Regelung eine Abschätzung des Gefährdungsrisikos vorzunehmen, um auf dieser Basis über das weitere Vorgehen – auf Grundlage von § 8 a I 3, II und III SGB VIII – entscheiden zu können. Diese Gefährdungseinschätzung ist zumeist erst auf der Grundlage weiterer Informationen möglich

Kunkel, SGB VIII, 4. Aufl., § 8 a Rn. 50 ff.; Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl., § 8 a Rn. 16. 

Das Jugendamt ist daher regelmäßig gehalten, den Sachverhalt weiter aufzuklären und sich hierfür auch einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und von seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen (§ 8 a I 2 SGB VIII). Ein  allgemein anerkanntes und praktiziertes Mittel in diesem Zusammenhang ist die Durchführung eines Hausbesuchs

 vgl. nur Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Komm. SGB VIII, 7. Aufl., § 8 a Rn. 34; Hauck, K § 8 a Rn. 4; MüKoBGB/Tillmanns, 6. Aufl., § 8 a SGB VIII Rn. 4, 6; VG Köln, Urt. v. 28.2.2012, BeckRS 2012, 49469; VG Münster, Urt. v. 2.4.2009 – 6 K 1929/07, BeckRS 2009, 37261.

Daraus ergibt sich, dass die Ag., sofern im Falle der Kinder der Ast. gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen, jederzeit nicht nur berechtigt, sondern grundsätzlich sogar verpflichtet ist, sich ein ausreichendes Bild über die tatsächliche Situation zu verschaffen und in diesem Zusammenhang auch einen – je nach konkreter Situation angemeldeten oder unangemeldeten – Hausbesuch durchzuführen, um eine Gefährdungseinschätzung auf möglichst großer Tatsachenbasis vornehmen zu können. Diese Schutzpflicht des Jugendamts zu Gunsten der Kinder der Ast. steht der von der Ast. begehrten Untersagung bzw. zahlenmäßigen Begrenzung von Hausbesuchen durch die Ag. bereits im Ansatz entgegen. Der Ast. steht kein Recht zu, von Hausbesuchen nach Maßgabe des § 8 a I SGB VIII verschont zu werden. Die Hauptanträge der Ast. haben daher keine Aussicht auf Erfolg.

2. Mit ihrem Hilfsantrag begehrt die Ast., „dass die Untersagungen gem. Nrn. 1 und 2 nur für den Fall gelten sollen, dass konkrete Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung von der Ag. (weiterhin) nicht benannt werden können“.

Bei sachgerechter Auslegung des Hilfsantrags dahingehend, es der Ag. zu untersagen, regelmäßige Hausbesuche bei der Ast. durchzuführen, ohne dass eine Bewertung durch die Ag. im Vorfeld des jeweiligen konkreten Termins für einen Hausbesuch das gegenwärtige Vorliegen gewichtiger Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Wohls der Kinder bzw. eines Kindes der Ast. sowie die Erforderlichkeit eines (erneuten) Hausbesuchs zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos ergeben hat, hat dieser Antrag Aussicht auf Erfolg.

In diesem Zusammenhang geht die Kammer zunächst davon aus, dass die Ast. nicht aus freien Stücken ihr Einverständnis zu den Hausbesuchen erteilt hat, sie diese vielmehr vor dem Hintergrund des familiengerichtlichen Verfahrens nur duldet.

Vereinzelte Äußerungen in den Akten könnten darauf hinweisen, dass die Ag. sich für berechtigt hält, auch ohne konkrete gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdungslage im Einzelfall regelmäßige angemeldete Hausbesuche bei der Ast. durchführen zu können. Diese Auffassung dürfte in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend sein.

Denn nach Auffassung der Kammer spricht Überwiegendes dafür, dass die Durchführung von Hausbesuchen kein allgemeines materielles Instrument der Jugendhilfe ist, welches quasi neben den Leistungen der Jugendhilfe nach §§ 27 ff. SGB VIII stünde oder als andere Aufgabe, etwa ergänzend zur Inobhutnahme des § 42 SGB VIII, zu sehen wäre. Die Struktur des § 8 a SGB VIII macht vielmehr deutlich, dass die Durchführung von Hausbesuchen der Informationsgewinnung des Jugendamts dient, um eine Gefährdungseinschätzung vornehmen zu können. Je nach Ergebnis dieser Gefährdungseinschätzung kann das Jugendamt anschließend den Personensorgeberechtigten Hilfen anbieten (§ 8a I 3 SGB VIII), das FamG anrufen (§ 8 a II 1 SGB VIII) bzw. bei dringender Gefahr das Kind in Obhut nehmen (§ 8 a II 2 SGB VIII) oder schließlich auf die Inanspruchnahme anderer Stellen durch die  Erziehungsberechtigten hinwirken bzw. selbst diese Stellen einschalten (§ 8 a III SGB VIII). Weder in § 8 a SGB VIII oder an anderer Stelle ist dagegen die Durchführung regelmäßiger, für die betroffenen Familien verpflichtender Hausbesuche durch das Jugendamt vorgesehen, insbesondere bleibt zwar bei Hausbesuchen auf rein freiwilliger Basis, bei denen die Jugendhilfebehörde folglich im Wege der Kooperation und nicht im Wege des Eingriffs handelt, die Einordnung als Leistung der allgemeinen Förderung der Erziehung der Familie nach § 16 SGB VIII möglich

DIJuF Rechtsgutachten v. 23.3.2010 – J 6.100 MH/Ka, JAmt 2010, 131; 

diese Einordnung aber scheidet bei verpflichtenden Hausbesuchen aus. Daraus folgt, dass für den Fall, dass freiwillige Hilfen – wie im Falle der Ast. – nicht in Anspruch genommen werden, nur der Weg über das FamG verbleibt, falls die Schwelle für dessen Anrufung erreicht ist; regelmäßige Kontrollbesuche, die nicht im Einverständnis der betroffenen Familie erfolgen, als Ersatz für die fehlende – freiwillige – Inanspruchnahme geeigneter Hilfen durch den Erziehungsberechtigten gehören dagegen nicht zu dem vom Gesetz vorgesehenen Instrumentarium einer Jugendhilfebehörde

vgl. dazu auch Münder/Meysen/Trenczek, § 8 a Rn. 35, sowie DIJuF-Rechtsgutachten v. 23.3.2010, JAmt 2010, 131: „Erzwungene Kontrollen sind aus verfassungsrechtlicher Sicht allerdings selbst bei Familien mit erheblichen Risikofaktoren, die aber unterhalb der Schwelle der  Kindeswohlgefährdung liegen, nicht möglich.“

Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass die Durchführung eines Hausbesuchs selbstredend ein (wieder) zulässiges und gegebenenfalls gebotenes Mittel der Sachverhaltsermittlung ist, sobald aktuell gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen.

Der Hilfsantrag der Ast. hat daher für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe hinreichende Erfolgsaussichten.

Quelle:
Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS)
NJW 2014, 648

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