SG Bremen, Beschluss vom 06.07.2015 – S 15 SO 170/15 ER

SOZIALGERICHT BREMEN
BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

T. B., Bremen,
Antragsteller,

Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Beier & Beier,
Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen,

gegen

Stadtgemeinde Bremen, vertreten durch die Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen, – Referat 13 -, Bahnhofsplatz 29, 28195 Bremen, Az.: – 450S3-301-03-o.A. –
Antragsgegnerin,

hat die 15. Kammer des Sozialgerichts Bremen am 6. Juli 2015 durch ihren Vorsitzenden, Richter am Sozialgericht Dr. B., beschlossen:

Die. Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 399 EUR für die Zeit vom 1. Juni 2015 bis zum Eintritt der Bestandskraft des Ablehnungsbescheides der Antragsgegnerin vorn 4. März 2015, längstens jedoch bis zum 31. August 2015, zu gewähren.

Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

GRÜNDE

Der am 1. Juni 2015 beim Sozialgericht Bremen erhobene Antrag des Antragstellers,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm unverzüglich Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewähren und ihm zur Behebung der akuten Mittellosigkeit unverzüglich einen Vorschuss in einer vom Gericht festzusetzenden Höhe auszuzahlen,

hat teilweise Erfolg.

Das Antragsbegehren wird von der Kammer in der Weise verstanden, dass nicht Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII begehrt werden, sondern Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII insgesamt.

Der im Jahr 1983 geborene Antragsteller besitzt die lettische Staatsangehörigkeit. Er hält sich nach seinem Vorbringen seit 2011 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Zur Zeit hält er sich nach seinem Vorbringen in der Wohnung eines Bekannten auf, er sei auf Arbeitssuche und mittellos. In der Vergangenheit habe er von „Schnorren“ und teilweise von Diebstählen gelebt.

Ein Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 4. März 2015, Widerspruchsbescheid vom 12. Juni 2015). Eine Klageerhebung hiergegen ist bisher nicht ersichtlich, ist aber fristgemäß zur Zeit noch möglich.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann, wenn — wie hier — ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG nicht vorliegt, das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrte Leistung besteht (Anordnungsanspruch) und dass die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist (Anordnungsgrund). Anordnungsgrund und -anspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung — ZPO). Wenn im Einzelfall damit zu rechnen ist, dass ohne die Gewährung einstweiligen Rechtschutzes bis zu einer bestands- oder rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache unzumutbare und irreparable Nachteile entstehen, ergeben sich aus Aft. 19 Abs. 4 Grundgesetz besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens. Sofern ein Erfolg in der Hauptsache nicht auszuschließen ist, weil insbesondere eine abschließende Sachverhaltsaufklärung im Hauptsacheverfahren nicht möglich ist, bedarf es einer Folgenabwägung, in der die grundrechtlichen Belange des Antragstellers, namentlich die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines die Menschenwürde wahrenden Existänzminimurns, umfassend zu berücksichtigen ist.

Der Antragsteller hat Anordnungsgrund und —anspruch glaubhaft gemacht.

Die besondere Eilbedürftigkeit ergibt sich aus der vorgetragenen Mittellosigkeit.

Es ist auch wahrscheinlich, dass dem Antragsteller ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII zusteht. Ein Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII dürfte dagegen ausgeschlossen sein. Der Antragsteller unterfällt zwar nicht dem Ausschluss des § 21 SGB XII. Als EU-Ausländer, dessen Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableiten lässt, ist er von SGB II-Leistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. Das bedeutet zugleich, dass er nicht im Sinne des § 21 SGB. XII dem Grunde nach nach dem SGB II leistungsberechtigt ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23. Mai 2014 – L8 SO 129/14 B ER -, juris). Der Antragsteller, dessen Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ableitet, erfüllt aber auch die Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII und besitzt damit keinen Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe, da er keinem Abkommensstaat des Europäischen Fürsorgeabkommens, angehört, für welche der Ausschluss keine Anwendung findet (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23. Mai 2014 — L 8 SO 129/14 B ER —, juris).

Der Leistungsausschluss gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII betrifft lediglich den Rechtsanspruch auf Leistungen (§ 23 Abs. 1 Satz 1, 2 SGB XII), nicht aber eine Leistungsgewährung im Ermessenswege gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen vom 15. April 2015 – L 8 SO 54/15 B ER – mit Bezugnahme auf die Rechtsprechung zur Vorgängervorschrift § 120 Abs. 1 BSHG BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 1987 – 5 C 32/85 -juris Rn. 9 ff. sowie LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Juli 2014 – L 1.9 AS 948/14 B ER – juris Rn. 16, Coseriu in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 Rn. 75).

Das nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII grundsätzlich eröffnete Ermessen wird durch das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erheblich eingeschränkt. Hinsichtlich der “Frage, ob überhaupt eine Leistungsgewährung erfolgt, wenn der notwendige Lebensunterhalt nicht auf andere Weise gesichert werden kann, dürfte das Ermessen regelmäßig auf Null reduziert sein. Allenfalls bezogen auf den Umfang und die Art der Leistungen dürfte ein Ermessenspielraum bestehen (Coseriu, a.a.O., Rn. 76; vgl. auch Greiser, a.a.O., Anhang zu § 23 Rn. 119 ff).

Der von den Antragstellern glaubhaft gemachte ungedeckte Bedarf nach dem Dritten Kapitel des SGB XII umfasst zur Zeit nur den Regelbedarf in Höhe von 399 EUR. Kosten der Unterkunft sind nicht glaubhaft gemacht worden.

Jedenfalls für das Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes folgt die Kammer grundsätzlich auch der Auffassung des LSG Niedersachen-Bremen (a.a.O.), dass für eine zeitlichä Begrenzung der Leistungen nicht auf eine Zumutbarkeit einer Ausreise abzustellen ist, auch wenn die dort in Bezug genommene Rechtsprechung des BVerfG zu § 3 AsylbLG ergangen ist, in dessen Anwendungsbereich typischerweise Berechtigte fallen, für die eine Ausreise in das Heimatland gerade nicht zumutbar oder möglich ist. Vor dem Hintergrund, dass eine weitere Sachverhaltsaufklärung unter Mitwirkung des Antragstellers dazu erforderlich ist, wie er in der Vergangenheit seinen Lebensunterhalts finanziert hat und wie seine aktuellen Lebensumstände sind (Unterlagen hierzu liegen in der beim Gericht vorhandenen Verwaltungsakte weiterhin nicht vor) wird die Anordnung jedoch auf den Zeitraum bis Ende August 2015 begrenzt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

RECHTSMITTELBELEHRUNG

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde statthaft. Sie ist binnen eines Monats nach Zustellung beim Sozialgericht Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, schriftlich oder in elektronischer Form nach Maßgabe der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr im Land Bremen vom 18.12.2006 (Brem. GBI. S. 548) in der jeweils aktuellen Fassung oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Straße 1, 29223 Celle oder der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, Am,Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder in elektronischer Form nach Maßgabe der Niedersächsischen Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr in der Justiz vom 21.10.2011 (Nds. GVBI. S. 367) in der jeweils aktuellen Fassung oder zur Nie¬derschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

gez. Dr: B.
Richter am Sozialgericht

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