SG Bremen, Beschluss vom 07.06.2018 – S 28 AS 572/18 ER

SOZIALGERICHT BREMEN
BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

A. Y. A., Bremen,
Antragstellerin,

Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Beier & Beier, Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen, Az,: – F/2018/009 (EA) –

gegen

Jobcenter Bremen, vertreten durch die Geschäftsführerin, Doventorsteinweg 48 – 52, 28195 Bremen, Az.:
Antragsgegner,

hat die 28. Kammer des Sozialgerichts Bremen am 7. Juni 2018 durch ihren Vorsitzenden, Richter am Sozialgericht M., beschlossen:

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.

GRÜNDE

Der Antrag der Antragstellerin auf Übernahme ihrer außergerichtlichen Kosten durch den Antragsgegner hat Erfolg.

Wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird (angenommenes Anerkenntnis, Vergleich, Rücknahme oder beidseitige Erledigungserklärung im Hinblick auf die Hauptsache) hat das Gericht nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG auf Antrag durch Beschluss darüber zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Danach hat das Gericht nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes, insbesondere der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs und der Gründe für die Einleitung des Rechtsstreits sowie dessen Erledigung, zu entscheiden (Rechtsgedanke aus § 91a Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO – sowie aus § 161 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung). Hierbei ist lediglich eine summarische Prüfung vorzunehmen, ohne dass zu allen für den Ausgang des Rechtsstreits bedeutsamen Rechtsfragen Stellung genommen zu werden braucht.

Unter Anlegung dieser Maßstäbe hält die Kammer es für billig, dass der Antragsgegner die Kosten der Antragstellerin trägt. Der Eilantrag wäre ohne das erledigende Ereignis, hier die Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 13.04.2018 nach Widerruf der Aberkennung der Freizügigkeitsberechtigung durch das Migrationsamt, voraussichtlich erfolgreich gewesen. Denn der Antragstellerin standen die streitigen Leistungen schon vor dem Widerruf durch das Migrationsamt zu.

Der in Rede stehende Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der seit dem 29.12.2016 geltenden Fassung war vorliegend aufgrund der Ausnahmeregelung des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht einschlägig. Nach dieser Vorschrift erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde (Satz 1).

Die Voraussetzungen von § 7 Abs. 1 Satz 4, 1. Halbsatz SGB II waren unstreitig erfüllt. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners griff die Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4, 2. Halbsatz SGB II vorliegend nicht ein. Den der Antragstellerin konnte aufgrund des laufenden Widerspruchsverfahrens gegen die Entscheidung des Migrationsamtes nicht entgegengehalten werden, dass der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU durch die Ausländerbehörde festgestellt wurde. Der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen hat hierzu im Beschluss vom 06.11.2017 (Az. L 8 SO 262/17 B ER) Folgendes ausgeführt:

„Der Widerspruch und die beim VG Bremen anhängige Klage der Antragstellerinnen gegen den Bescheid vom 8. Dezember 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2017 haben gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung ist nicht kraft Gesetzes ausgeschlossen. Insbesondere ist § 84 Abs. 1 AufenthG nicht (entsprechend) anwendbar. Die Vorschrift gehört nicht zu den Regelungen des Aufenthaltsgesetzes, die gemäß § 11 Abs. 1 FreizügG/EU auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen entsprechende Anwendung finden (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). § 11 Abs. 2 FreizügG sieht zwar die Anwendung des AufenthG vor, wenn die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat und sofern das FreizügG/EU keine besonderen Regelungen trifft. Das AufenthG enthält aber keine Regelung, wonach die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage gegen die Feststellung, dass ein Aufenthaltsrecht nicht (mehr) besteht, entfällt. Widerspruch und Klage gegen eine Feststellung der Ausländerbehörde nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU hat somit kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung (Kurzidem in BeckOK-Ausländerrecht, Stand 1. August 2017, § 7 FreizügG/EU Rn. 4; Die- nelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 7 FreizügG/EU Rn. 16). Die Ausländerbehörde hat auch nicht die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet.

Die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Klage gegen einen feststellenden Verwaltungsakt (§ 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO) hat zur Folge, dass aus der Feststellung keine rechtlichen oder tatsächlichen Folgerungen gezogen werden dürfen (Finkelnburg in Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Auflage 2017, Rn. 635; W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 23. Auflage 2017, § 80 Rn. 28; zu § 86a Abs. 1 SGG: Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 86a Rn. 5, 6a). Die Antragstellerinnen sind also, solange die aufschiebende Wirkung andauert (vgl. § 80b VwGO), so zu behandeln als sei noch keine Feststellung ergangen. Eine andere Beurteilung ergibt sich nicht daraus, dass die Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nicht mehr – anders als nach § 7 FreizügG/EU in der bis zum 27. August 2007 geltenden Fassung – die Unanfechtbarkeit, sondern nur noch die Wirksamkeit der Feststellung der Ausländerbehörde voraussetzt (vgl. Kurzidem, a.a.O., § 7 FreizügG/EU Rn. 2). Dies kann sich nur in den Fällen auswirken, in denen mangels Widerspruch oder Klage und wegen Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) keine aufschiebende Wirkung eingetreten ist. Auch § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung und eines sonstigen Verwaltungsaktes, der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, unberührt lassen, schränkt den durch die aufschiebende Wirkung bewirkten Rechtsschutz vorliegend nicht ein. Die Vorschrift ist auf die mit Bescheid vom 8. Dezember 2016 getroffene Feststellung nicht anwendbar. Insbesondere kann § 11 Abs. 2 FreizügG/EU nicht eingreifen, wenn einem Rechtsbehelf gegen die Feststellung des Nichtbestehens oder Verlustes des Freizügigkeitsrechts aufschiebende Wirkung zukommt (Kurzidem, a.a.O., § 11 FreizügG/EU Rn, 6).

Wegen der aufschiebenden Wirkung der anhängigen Klage kommt dem Bescheid vom 8. Dezember 2016 hier keine Tatbestandswirkung zu. Zwar kommen Entscheidungen der Ausländerbehörde bei der Prüfung von Sozialleistungsansprüchen oftmals Tatbestandswirkungen zu mit der Folge, dass andere Behörden sowie Gerichte an die Entscheidungen gebunden sind (BSG, Urteil vom 2. Dezember 2014 – B 14 AS 8/13 R – juris Rn. 10 ff, Urteil vom 28. Mai 2015 – B 7 AY 4/12 R – juris Rn. 11; allgemein: Roos in von Wulf- fen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, Vor § 39 Rn. 4). Die Tatbestandswirkung kann aber nur an einen bindenden Verwaltungsakt anknüpfen (vgl. BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 – B 1 KR 25/16 R-juris Rn. 11), woran es vorliegend fehlt.“

Nach diesen Ausführungen, die sich die Kammer zu Eigen macht, konnten aus der Aberkennung der Freizügigkeitsberechtigung mit Bescheid des Migrationsamtes vom 20.02.2018 aufgrund der aufschiebenden Wirkung des gegen sie eingelegten Widerspruchs keine Folgerungen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht gezogen werden. Der entgegenstehenden Auffassung des 15. Senates des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen im Beschluss vom 17.05.2017 (Az. L 15 As 62/17 B ER) vermag sich die Kammer nicht anzuschließen, da sie dazu führt, dass dem Betroffenen ein effektiver Eilrechtsschutz gegen die leistungsrechtlichen Konsequenzen einer rechtswidrigen Entscheidung des Migrationsamtes verwehrt wird.

Hinweis

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 172 Absatz 3 Nr. 3 SGG).

gez. M. Richter am Sozialgericht