SG Bremen, Beschluss vom 27.03.2014 – S 15 SO 74/14 ER (n.rk)

Beschluss

In dem Rechtsstreit

1. I. C. S., Bremen,
2. M. T. C., Bremen, vertreten durch I. C. S., Bremen,
Antragsteller,

Prozessbevollmächtigte:

zu 1-2: Rechtsanwälte Beier & Beier,
Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen, Az.:

gegen

Stadtgemeinde Bremen, vertreten durch die Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen, – Referat 13 -, Bahnhofsplatz 29, 28195 Bremen, Az.:
Antragsgegnerin,

hat die 15. Kammer des Sozialgerichts Bremen am 27. März 2014 durch die Richterin am Sozialgericht Dr. L. beschlossen:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

GRÜNDE

Die Beteiligten streiten um Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII).

Die 1976 geborene Antragstellerin zu 1.) und ihre Tochter, die im Dezember 2013 geborene Antragstellerin zu 2.) sind nach eigenen Angaben spanische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 1.) reiste nach eigenem Vortrag im September 2013 mit ihrem Ehemann in das Bundesgebiet ein und erhielt zunächst bis einschließlich November 2013 Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII von der Antragsgegnerin. Im Anschluss erhielten die Antragsteller bis zum 28.02.2014 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) vom zuständigen Jobcenter. Die Leistungsgewährung wurde zum 01.03.2014 nach Durchführung eines sozialgerichtlichen Eil- und Beschwerdeverfahrens (S 28 AS 2375/13 ER; L 15 AS 9/14 B ER) eingestellt.

Die Antragsteller beantragten am 25.02.2014 Leistungen nach dem SGB XII bei der Antragsgegnerin. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 11.03.2014 abgelehnt, über den hiergegen eingelegten Widerspruch ist noch nicht entschieden.

Die Antragsteller haben am 07.03.2014 um Eilrechtsschutz nachgesucht.

Sie tragen vor, ihnen seien als erwerbsfähige EFA-Angehörige anstelle des AlG II jedenfalls Leistungen nach dem SGB XII, zumindest eine „Notversorgung“ analog den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zuzusprechen.

Die Antragsteller beantragen,

die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihnen vorläufig ab Antragseingang bei Gericht, ggf. für 6 Monate, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, die Antragstellerin zu 1.) sei allein zum Zweck der Arbeitsuche in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Sie sei erwerbsfähig und damit leistungsberechtigt nach dem SGB II. Die Bundesregierung habe hinsichtlich der Anwendung der Vorschriften des SGB II und XII im Dezember 2011 Vorbehalte bzgl. des Gleichbehandlungsgebotes des Europäischen Fürsorgeabkommens eingelegt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin Bezug genommen, die vorgelegen haben und Grundlage der Entscheidung geworden sind.

Der zulässige Antrag ist unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitigen Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes durch den Antragsteller voraus (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 86b Rdnr. 27, 41).

Der Anordnungsgrund betrifft die Frage der Eilbedürftigkeit oder Dringlichkeit. Die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs betrifft demgegenüber die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten des geltend gemachten Anspruchs, das heißt der Rechtsanspruch muss mit großer Wahrscheinlichkeit begründet sein und aller Voraussicht nach im Klageverfahren bestätigt werden.

Nach alldem haben die Antragsteller einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Sie sind nicht anspruchsberechtigt nach dem SGB XII.

Gem. § 21 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Leistungsansprüche von Erwerbsfähigen und ihren Angehörigen richten sich grundsätzlich nach dem SGB II. Die Antragstellerin zu 1.) ist, soweit ersichtlich und vorgetragen, erwerbsfähig im Sinne des SGB II und daher grundsätzlich leistungsberechtigt nach dem SGB II. Für die Tochter der Antragstellerin zu 1.) folgt dies aus ihrer Eigenschaft als Angehörige einer Erwerbsfähigen. Der Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin zu 1.) steht insbesondere nicht entgegen, dass sie im Dezember 2013 ihre Tochter geboren hat. In Heranziehung der Vorschriften des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) wäre nur für die Zeit bis zum Ablauf von acht Wochen, bei Früh- und Mehrlingsgeburten bis zum Ablauf von zwölf Wochen nach der Entbindung ein Beschäftigungsverbot anzunehmen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 MuSchG). Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich oder vorgetragen, die gegen die Annahme der Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin zu 1.) sprechen.

Sowohl vom Wortlaut als auch dem Sinn und Zweck der Regelung des § 21 Satz 1 SGB XII sind die Antragsteller von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII ausgeschlossen. Die Abgrenzung der Systeme der Grundsicherung nach dem SGB II einerseits und dem SGB XII andererseits geschieht durch den Begriff der Erwerbsfähigkeit (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.03.2013, L 5 AS 273/13 B ER, m. w. N. juris). Demzufolge finden die Vorschriften des SGB XII zur Sicherung des Lebensunterhalts auf die Antragsteller systembedingt keine Anwendung. Das SGB II und das SGB XII sind, soweit es Leistungen für den Lebensunterhalt betrifft, nebeneinander stehende Existenzsicherungssysteme, die sich grundsätzlich gegenseitig ausschließen (Eicher in: juris PK-SGB XII, § 21 SGB XII, Rn. 12). Die Regelung des § 21 SGB XII stellt eine Norm zur Abgrenzung der Hilfesysteme nach dem SGB II und dem SGB XII anhand der Erwerbsfähigkeit dar. Dies gilt auch, soweit ein tatsächlicher Leistungsanspruch bei vorhandener Erwerbsfähigkeit nach dem SGB II nicht ausgelöst wird, da es für die Abgrenzung nur auf einen Anspruch dem Grunde nach ankommt. Durch die Abgrenzung der Leistungssysteme in § 21 SGB XII nach der Erwerbsfähigkeit und die Ausschlusswirkung bei einem Anspruch nach dem System des SGB II dem Grunde nach bei Erwerbsfähigkeit scheidet ein Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII auch für solche Personen aus, die erwerbsfähig sind, deren Anspruch jedoch aus anderen rechtlichen Gründen ausgeschlossen ist (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.06.2012, L 20 AS 1322/12 B ER, m. w. N. juris).

Da die Antragsteller – von ihrem Leistungsbezug nach dem SGB II bis Februar 2014 ausgehend – die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 2 Satz 1 SGB II erfüllen, unterliegen sie dem Grunde nach dem Leistungssystem des SGB II.

Aufgrund der Abgrenzung der Leistungssysteme abstrakt nach der Erwerbsfähigkeit kann nicht allein deshalb erfolgreich ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aus § 21 Satz 1 SGB XII hergeleitet werden, weil im Leistungssystem des SGB II ein rechtlicher Ausschlussgrund (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II) greift.

Infolgedessen ergibt sich für die Antragsteller auch kein Leistungsanspruch unter Heranziehung des Gleichbehandlungsgebots des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA). Der Vorbehalt der Bundesregierung gegen die Vorschriften des EFA bezieht sich hinsichtlich der Regelungen des SGB XII zwar ausschließlich auf die Hilfen zur Überwindung besonderer Sozialer Schwierigkeiten im 8. Kapitel SGB XII. Da die Trennung der Systeme nach Auffassung des Gerichts nach dem Kriterium der Erwerbsfähigkeit vorzunehmen ist, vermag auch das EFA für erwerbsfähige Angehörige der EFA-Staaten nicht zu einer Anspruchsberechtigung nach dem 3. Kapitel SGB XII zu führen (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.03.2013, a. a. 0.). Der eingeschränkte Vorbehalt der Bundesregierung hinsichtlich der Leistungen nach dem 8. Kapitel SGB XII hat demnach nur für die nicht erwerbsfähigen ausländischen Staatsangehörigen Bedeutung, denen ggf. Ansprüche nach § 23 Abs. 1 SGB XII zustehen.

Die Antragsteller können keinen Anspruch aus § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII herleiten. Hiernach ist Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, ist Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten. Allerdings haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe (§ 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII). Dieser Ausschluss von Leistungen nach dem SGB XII soll im Hinblick auf die entsprechende Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II sicherstellen, dass der von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossene erwerbsfähige Ausländer keinen Leistungsanspruch nach dem SGB XII herleiten kann (Coseriu in: jurisPK-SGB XII, § 23 SGB XII, Rn. 66).

Die Antragsteller können einen Anordnungsanspruch auch nicht aus § 73 SGB XII herleiten. Nach § 73 SGB XII können in sonstigen Lebenslagen Leistungen auch erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Geldleistungen können als Beihilfe oder Darlehen erbracht werden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist Voraussetzung hierfür, dass eine besondere, atypische Lebenslage vorliegt, die eine Nähe zu den anderen im 5. bis 9. Kapitel des SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweist (BSG, Urteil vom 28.i 0.2009, B 14 AS 44/08 R, m. w. N., juris). Die von den Antragsteller begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bzw. zur Sicherung der Unterkunft finden sich im jedoch im 3. Kapitel des SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt) und sind vom Gesetzgeber dort bereits explizit geregelt worden. Es liegt gerade keine besondere, atypische Bedarfslage vor. Das Erfordernis für eine analoge Anwendung des § 73 SGB XII vermag das Gericht nicht zu erkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe war gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 114, 115 Zivilprozessordnung wegen mangelnder Erfolgsaussichten abzulehnen.

RECHTSMITTELBELEHRUNG

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde statthaft. Sie ist binnen eines Monats nach Zustellung beim Sozialgericht Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Straße 1, 29223 Gelle oder der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

 

Hinweis:

Die Entscheidung wurde aufgehoben durch das LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 07.05.2014 – L 8 SO 126/14 B ER

Siehe zur ablehnenden PKH Entscheidung den Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 07.05.2014 – L 8 SO 127/14 B

Schreibe einen Kommentar