Wichtige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts seit März 2014

Anmerkung des Verfassers

Bei der Zusammenfassung der nachfolgenden Entscheidungen sind Wiederholungen der dargestellten Inhalte beabsichtigt. Die nachfolgenden Texte wurden als Kurzfassung, eines vom Verfasser gefertigten Skriptes, komprimiert. Damit der Zusammenhang aus dem Ursprungskript nicht verloren geht, wurde die nachfolgende Darstellung gewählt.

Verfasser: RA Heino Beier, Stand 30.05.2016

Einleitung

Seit März 2014 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in einer Fülle von Entscheidungen die Herausnahme von Kindern verfassungsrechtlich zu beurteilen gehabt. Dabei wurden Entscheidungen von mehreren Oberlandesgerichten (Berliner Kammergericht, OLG Zweibrücken, OLG Düsseldorf, OLG Celle, OLG Frankfurt, OLG München und OLG Köln) aufgehoben, die jeweils den betroffenen Eltern nach §§ 1666, 1666a BGB die elterliche Sorge teilweise entzogen hatten, damit deren Kinder fremduntergebracht werden konnten.

In der Literatur wurde das BVerfG deshalb in Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB faktisch als Rechtsbeschwerdeinstanz bezeichnet.

Dies ist darin begründet, weil die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof durch das Oberlandesgericht zugelassen werden muss, § 70 Abs. 1 FamFG. Zugelassen wird die Rechtsbeschwerde jedoch nur, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.

Da die Verfahren nach § 1666 BGB jedoch Einzelfallentscheidungen sind, sind die Voraussetzungen für die Rechtsbeschwerde regelmäßig nicht gegeben. Insoweit können betroffene Eltern bei Maßnahmen nach § 1666 BGB daher dann nur noch Verfassungsbeschwerde einlegen. Sofern das Kind beschwert ist, kann es ebenfalls Verfassungsbeschwerde einlegen. Das Kind benötigt jedoch einen Vertreter, der seine Rechte wahrnimmt.

Das BVerfG prüft seit jeher Entscheidungen, die eine Trennung des Kindes von seinen Eltern zur Folge haben (Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 GG), besonders streng.

„Es kommt ein strenger Kontrollmaßstab zur Anwendung. Zwar sind die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und die Würdigung des Tatbestandes sowie die Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklicher Regelungen im einzelnen Fall grundsätzlich Angelegenheit der zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Dem Bundesverfassungsgericht obliegt lediglich die Kontrolle, ob die angegriffene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts oder vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen (vgl. BVerfGE 72, 122, 138; stRspr).“

Nunmehr hat es die Prüfung auf „deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts“ erweitert. Es prüft dabei, ob die Instanzgerichte in nachvollziehbarer Weise angenommen haben, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, und ob die Gefährdung nicht durch weniger eingreifende Maßnahmen als durch die Trennung des Kindes von seinen Eltern hätte abgewendet werden können.

„Bei gerichtlichen Entscheidungen, die Eltern zum Zweck der Trennung des Kindes von den Eltern das Sorgerecht für ihr Kind entziehen, besteht hingegen wegen des sachlichen Gewichts der Beeinträchtigung der Grundrechte von Eltern und Kindern Anlass, über den grundsätzlichen Prüfungsumfang hinauszugehen (vgl. BVerfGE 55, 171, 181; 75, 201, 221 f.). Vor allem prüft das Bundesverfassungsgericht, ob das Familiengericht in nachvollziehbarer Weise angenommen hat, es bestehe eine nachhaltige Gefährdung des Kindeswohls und diese sei nur durch die Trennung des Kindes von den Eltern, nicht aber durch weniger eingreifende Maßnahmen abwendbar. Dabei kann sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle wegen des besonderen Eingriffsgewichts ausnahmsweise auch auf einzelne Auslegungsfehler (vgl. BVerfGE 60, 79, 91; 75, 201, 222) sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstrecken (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2014 – 1 BvR 160/14 -, juris, Rn. 26; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2014 – 1 BvR 3121/13 -, juris, Rn. 25; BVerfG, Beschluss vom 22.05.2014 – 1 BvR 2882/13; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. Juni 2014 – 1 BvR 2926/13 -, juris, Rn. 28;  BVerfGE 136, 382, 391, Rn. 28; BVerfG, Beschluss vom 20. Januar 2016 – 1 BvR 2742/15)

Das bedeutet letztlich eine vollständige Überprüfung der richtigen Anwendung der §§ 1666, 1666a BGB in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch das BVerfG.

Wichtige Entscheidungen seit März 2014

Nachfolgend werden die seit März 2014 wichtigen Entscheidungen des BVerfG dargestellt, die sich mit dem Entzug des Sorgerechts leiblicher Eltern befassen. Diese sind

1 BvR 2695/13 vom 17.03.2014  ;  1 BvR 160/14 vom 24.03.2014  ;  1 BvR 3121/13 vom 07.04.2014  ;  1 BvR 2882/13 vom 22.05.2014  ;  1 BvR 3190/13 vom 22.05.2014  ;1 BvR 725/14 vom 14.06.2014;  1 BvR 1822/14 vom 27.08.2014  ;  1 BvR 1178/14 vom 19.11.2014  ; 1 BvR 1292/15 vom 29.09.2015 ; 1 BvR 2742/15 vom 20.01.2016

BVerfG 1 BvR 2695/13 vom 17.03.2014

In der vorbenannten Entscheidung hat das BVerfG folgendes klargestellt:

Ein Sorgerechtsentzug „auf Vorrat“ genügt dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebot dann nicht, wenn für das Familiengericht bereits deutlich erkennbar ist, dass die zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung erforderliche Fremdunterbringung des Kindes in näherer Zeit kaum möglich sein wird.

Selbst wenn das Kindeswohl im Haushalt der Eltern in einem solchen Ausmaß gefährdet ist, das eine Trennung des Kindes von seinen Eltern rechtfertigen kann, ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strikt zu beachten. Danach müssten sich die Entziehung des Sorgerechts und die damit bezweckte Fremdunterbringung zur Beseitigung der festgestellten Gefahr eignen und es dürften keine milderen Mittel erkennbar sein, mit denen der Gefahr genauso wirksam begegnet werden könnte (vgl. BVerfGK 19, 295 <303>). Die Übertragung des Sorgerechts auf einen Vormund (bzw. Pfleger) ist dann nicht verhältnismäßig, wenn der Vormund/Pfleger eine Fremdunterbringung nicht veranlasst und dies bereits bei der Entscheidung absehbar ist, BVerfG, Bs. v. 17.03.2014 – 1 BvR 2695/13, FamRZ 2014, 1177, JAmt 2014, 403.

Im zu entscheidenden Fall hatte das Jugendamt für das Kind in den fast vier Monaten, die seit der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts, der Gesundheitssorge und des Rechts zur Beantragung von Hilfen zur Erziehung auf den Ergänzungspfleger vergangen waren, keine Maßnahmen eingeleitet, die das Gericht zuvor als „wichtige Option“ (Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung) angesehen hatte.

BVerfG 1 BvR 160/14 vom 24.03.2014

In der vorbenannten Entscheidung geht das Bundesverfassungsgericht nochmals sehr dezidiert darauf ein, welche Anforderungen an die Begründung einer Kindeswohlgefährdung zu stellen sind. Auch stellt das BVerfG klar, das keine Bindung des Familiengerichts an die Einschätzung des Jugendamts zur Gefährdungseinschätzung im Bezug auf eine Kindeswohlgefährdung besteht. Vielmehr muss das Familiengericht selbständig prüfen, ob weitere ambulante Maßnahmen in Betracht kommen. Teilt das Jugendamt diese Auffassung nicht, kann das Familiengericht dem Jugendamt derzeit – mangels gesetzlicher Grundlage – jedoch keine Weisung erteilen. BVerfG, Bs. v. 24.03.2014 – 1 BvR 160/14, JAmt 2014, 223.

Betont wird nochmals ausdrücklich, dass in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen in § 1666a Abs. 1 Satz 1 BGB erklärt wird, dass Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, nur dann zulässig ist, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann.

Insoweit betrifft die maßgebliche Frage, ob der Gefahr für die Kinder nicht auf andere Weise als durch Trennung von den Eltern, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann (§ 1666a Abs. 1 Satz 1 BGB), eine verfassungsrechtlich zentrale  Tatbestandsvoraussetzung und muss darum vom Familiengericht von Amts wegen aufgeklärt werden. Ob öffentliche Hilfen erfolgversprechend sind, muss das Familiengericht letztlich in eigener Verantwortung beurteilen, wozu es sich eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage verschaffen und diese in seiner Entscheidung auch darlegen muss (vgl. BVerfGK 13, 119 <127 f.>). Die eigene Ermittlungspflicht trägt dazu bei, zu verhindern, dass Kinder von ihren Eltern getrennt werden, ohne dass die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 3 GG vorliegen und schützt damit Grundrechte der Eltern und des Kindes.

Weil die Ermittlungspflicht grundrechtliche Schutzfunktion entfaltet, können sich die Gerichte ihrer nicht ohne gesetzliche Grundlage entledigen – auch nicht im Wege der Annahme einer Bindung an Feststellungen des Jugendamts. Ob eine gesetzliche Bindung des Familiengerichts an die Feststellungen und Wertungen des Jugendamts besteht, ist – ungeachtet der Frage der Vereinbarkeit einer solchen Bindung mit dem Grundgesetz – zunächst eine Frage der Auslegung des einfachen Rechts. Aus §§ 1666, 1666a BGB oder den Vorschriften des SGB VIII über die Gewährung öffentlicher Hilfen ist für die Annahme einer Bindung des Familiengerichts an die Feststellungen des Jugendamts jedenfalls nichts erkennbar.

Die Gerichte dürfen die Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen auch nicht deshalb als denkbares milderes Mittel außer Betracht lassen, weil die Durchführung einer vom Jugendamt bereits abgelehnten Hilfemaßnahme praktisch nicht durchsetzbar wäre. Zwar ist ungewiss, ob das Familiengericht befugt ist, das Jugendamt zur Gewährung öffentlicher Hilfen zu verpflichten. Jedoch können die Personensorgeberechtigten den Anspruch auf Hilfen nach §§ 27 ff. SGB VIII grundsätzlich vor den Verwaltungsgerichten durchsetzen.

Nachfolgend wird eine Darstellung der der zentralen Aussagen des BVerfG wiedergegeben.

Zunächst stellt das BVerfG klar, dass eine Trennung der Kinder von ihren Eltern nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen darf. Sodann geht das BVerfG auf den vorzunehmenden Kontrollmaßstab ein. Im Weiteren wird nochmals betont, dass nicht jedes Versagen der Eltern den Staat berechtigt, Kinder von ihrer Familie zu trennen. Auch wird klargestellt, dass eine künftige Gefährdung des Kindeswohls – selbst wenn diese gutachterlich „Festgestellt“ wurde – keine nachhaltige Kindeswohlgefahr im verfassungsrechtlichen Sinne begründet. Denn eine Trennung von Kind und Eltern lässt sich grundsätzlich nicht auf eine in der Vergangenheit liegende Gefährdungslage stützen, weil es auch dann an der verfassungsrechtlich geforderten Gegenwärtigkeit einer konkreten Gefahr fehlt. Es ist insoweit immer der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Danach muss die Trennung der Kinder von ihren Eltern zur Abwendung einer nachhaltigen Kindeswohlgefahr stets geeignet und erforderlich sein und dazu im angemessenen Verhältnis stehen. Es kann auch nicht jede Maßnahme ohne Weiteres als zur Wahrung des Kindeswohls geeignet gelten, wenn sie ihrerseits nachteilige Folgen für das Kindeswohl haben kann. Aber selbst bei einer konkret geeigneten Maßnahme, muss diese dann auch erforderlich sein und kein anderes geeignetes Mittel zur Verfügung stehen. Als geeignete Maßnahmen sind immer auch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen (öffentliche Hilfen) in Erwägung zu ziehen.

Ob öffentliche Hilfen erfolgversprechend sind, muss das Familiengericht dabei letztlich in eigener Verantwortung beurteilen, wozu es sich eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage verschaffen und diese in seiner Entscheidung auch darlegen muss. Denn diese Frage betrifft eine verfassungsrechtlich zentrale Tatbestandsvoraussetzung und muss darum vom Familiengericht von Amts wegen aufgeklärt werden. Dabei darf sich das Familiengericht nicht allein auf Feststellungen und Wertungen des Jugendamtes verlassen, weil aus §§ 1666, 1666a BGB oder den Vorschriften des SGB VIII über die Gewährung öffentlicher Hilfen für die Annahme einer Bindung des Familiengerichts an den Feststellungen des Jugendamts nichts erkennbar ist. Eine Bindung ergibt sich auch nicht aus den Grundsätzen über die verfassungsrechtliche Anerkennung administrativer Letztentscheidungsrechte. Denn insoweit sind die familiengerichtlichen Entscheidungen nach § 1666 BGB nicht als Kontrolle behördlicher Entscheidungen, sondern als eigene und originäre Sachentscheidung des Gerichts ausgestaltet.

Das Gericht kann lediglich die bei der ihm aufgegebenen Ermittlung der für und gegen einen Sorgerechtsentzug sprechenden Tatsachen auch die Aussagen der seitens des Jugendamts mit dem Sachverhalt befassten Fachkräfte heranzieht. An den Feststellungen und Wertungen des Jugendamtes gebunden ist das Gericht jedoch nicht. Auch darf das Gericht die Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen nicht deshalb als denkbares milderes Mittel außer Betracht lassen, weil die Durchführung einer vom Jugendamt bereits abgelehnten Hilfemaßnahme praktisch nicht durchsetzbar wäre.

BVerfG 1 BvR 3121/13 vom 07.04.2014

Das BVerfG geht in der vorbenannten Entscheidung darauf ein, welche Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung und Prüfung einer Kindeswohlgefährdung im Eilverfahren nach § 1666 Abs. 1 BGB zu stellen sind.

Dabei stellt das BVerfG zunächst klar, dass besondere Anforderungen bei der Herausnahme des Kindes im Wege der einstweiligen Anordnung gelten. Diese dürften danach praktisch nur noch bei körperlichen Misshandlungen, sexuellen Missbrauch oder gravierenden gesundheitsgefährdenden Formen der Vernachlässigung möglich sein. Insbesondere bei seelischer Misshandlung dürften einstweiligen Anordnungen mit dem Ziel der Herausnahme des Kindes nur noch in Ausnahmefällen möglich sein. Dies wird mit der nur summarischen Prüfung im einstweiligen Anordnungsverfahren erklärt, BVerfG, Bs. v. 07.04.2014 – 1 BvR 3121/13, FamRZ 2014, 907 = JAmt 2014, 406.

Nachfolgend wird eine Darstellung der der zentralen Aussagen des BVerfG wiedergegeben.

Das BVerfG stellt zunächst klar, dass (auch und vor allem) im Eilverfahren hohe Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung zu stellen sind, so dass die geforderte hohe Prognosesicherheit im Bezug auf einer Kindeswohlgefährdung tatsächlich erzielt werden kann. Denn gerade bei einer Sorgerechtsentziehung aufgrund summarischer Prüfung im Wege der einstweiligen Anordnung unterliegt das Eilverfahren besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen. Dies ist auch darin begründet, weil selbst der vorläufige Entzug des Sorgerechts einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der Eltern und des Kindes darstellt und weil schon die vorläufige Herausnahme des Kindes aus der Familie Tatsachen schaffen kann, welche später nicht ohne Weiteres rückgängig zu machen sind. Dies gilt ausnahmsweise nur dann nicht, wenn die Gefahr wegen der Art der zu erwartenden Schädigung des Kindes und der zeitlichen Nähe des zu erwartenden Schadenseintritts ein sofortiges Einschreiten gebietet. Auch darf ein vorbereitender Sorgerechtsentzug im Eilverfahren, der nur auf einen vorläufigen Ermittlungsstand gestützt wird, erfolgen, wenn die Gefahr einer schweren und zeitlich nahen Kindeswohlgefahr besteht, die ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung ausschließt. Dabei reicht es für die Annahme eines schweren Schadens jedoch nicht aus, wenn das Gericht lediglich Beobachtungen Dritter wiedergibt.

Sofern das Gericht die Unterbringung des Kindes letztlich für geboten erachtet, ist zu prüfen, ob nahe Angehörige zum Ergänzungspfleger zu bestellen sind, denn die Unterbringung des Kindes bei Verwandten kann im Vergleich zur Heimunterbringung eine Eltern und Kind weniger stark belastende Maßnahme sein. Insoweit reichen auch keine pauschalen Gründe zur Ablehnung einer Verwandtenunterbringung, denn eine Verwandtenunterbringung stellt stets ein milderes Mittel zur Fremdplatzierung dar. Lediglich ausnahmsweise und nur in äußerst dringenden Fällen, kann die bloße Bezugnahme auf Schriftsätze Dritter ausreichen, damit ein Kind zur Abwendung einer Gefahr für Leib und Leben sofort aus der Familie herausgenommen werden kann.

BVerfG 1 BvR 3190/13 vom 22.05.2014

In der vorbenannten Entscheidung hatte das BVerfG vor allem darüber zu befinden,

„ob das Familiengericht in nachvollziehbarer Weise angenommen hat, es bestehe eine nachhaltige Gefährdung des Kindeswohls und diese sei nur durch die Trennung des Kindes von den Eltern, nicht aber durch weniger eingreifende Maßnahmen abwendbar“.

Dabei unterstreicht das BVerfG, dass ambulante Maßnahmen als „mildere Mittel“ zwingend konkret in Erwägung gezogen werden müssen, bevor eine zwangsweise Trennung des Kindes in Betracht kommen kann. Es muss sehr genau begründet werden, warum ambulante Hilfen nicht geeignet sind.

Nachfolgend wird eine Darstellung der zentralen Aussagen des BVerfG wiedergegeben.

Zunächst wird vom BVerfG gerügt, dass das Familiengericht sich bei seinen Feststellungen zur Kindeswohlgefährdung (lediglich) maßgeblich auf das eingeholte Sachverständigengutachten sowie auf Krankenhausberichte und die Angaben der das Kind ehemals ambulant behandelnden Ärztin gestützt hatte. Dies ist aber so nicht zulässig, weil die Sachverständige die konkreten Ansichten der Fachleute nicht benannt und auch nicht nachvollziehbar dargestellt hatte, aufgrund welcher Befundtatsachen sie zu dieser Auffassung gelangt ist. Zudem ist nicht erkennbar, dass die Sachverständige ihre Hypothese, es liege eine symbiotische Mutter-Tochter-Beziehung vor, einer eigenständigen gutachterlichen Prüfung unterzogen hätte.

Auch sonst habe das OLG nicht in hinreichend nachvollziehbarer Weise dargelegt, welche eine Trennung von Mutter und Kind rechtfertigende Kindeswohlgefährdung gegenwärtig besteht. Denn insoweit habe das Gericht bei seiner Entscheidung auf Vorgänge zurückgegriffen, die schon länger in der Vergangenheit lägen, so dass diese nicht den Schluss auf eine gegenwärtige Gefahr erlauben würden.

Auch ließen die Feststellungen des Familiengerichts zum Freizeitverhalten (kleine alterstypischen Freundschaften) des Kindes nicht mit hinreichender Sicherheit auf eine nachhaltige Kindeswohlgefährdung schließen. Zudem lasse sich aus dem Sachverständigengutachten keine Feststellung einer aktuellen Kindeswohlgefährdung im Falle des Verbleibens des Kindes bei der Mutter entnehmen. Die Annahmen des Sachverständigen seien insoweit nicht nachvollziehbar.

Das Gericht genüge zudem nicht den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

Insoweit verlangt die strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung zunächst, dass die Maßnahme auch geeignet und geboten sowie zur Erreichung des verfolgten Zwecks erforderlich sind und keine milderen Mittel zur Verfügung stehen, die ebenso geeignet gewesen wären, die angenommene Gefährdung von dem Kind abzuwenden. Letztlich darf die Maßnahme nicht außer Verhältnis zum erstrebten Erfolg stehen, d.h. sie muss angemessen sein.

BVerfG 1 BvR 2882/13 vom 22.05.2014

In der vorbenannten Entscheidung (abgedruckt in FamRZ 2014 Heft 0, 1354 – 1355. ) hat das Bundesverfassungsgericht erneut eine Inobhutnahme und Neubeelterung durch Jugendamt und Familiengerichte für grundgesetzwidrig erklärt. Es hat damit einmal mehr den leiblichen Eltern den Vorrang vor Neubeelterungen durch „soziale Eltern“ (Pflegeeltern) eingeräumt.

Das BVerfG skizziert zunächst die Maßstäbe, an denen sich verfassungsrechtlich der (teilweise) Entzug des Sorgerechts messen lassen muss. Dabei betont es die spezifischen Anforderungen für die Fälle, in denen die leiblichen Eltern die Rückführung eines in einer Pflegefamilie untergebrachten Kindes begehren.

Hervorgehoben wird, dass ein strenger Kontrollmaßstab zur Anwendung kommt und das BVerfG seine Prüfung auch auf „deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts“ erweitert hat. Das BVerfG prüft dabei, ob die Instanzgerichte in nachvollziehbarer Weise angenommen haben, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, und ob die Gefährdung nicht durch weniger eingreifende Maßnahmen als durch die Trennung des Kindes von seinen Eltern hätte abgewendet werden können.

Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern ist danach nur gerechtfertigt, wenn das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen hat, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist. Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt danach voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder eine Gefahr gegenwärtig in einem solchen Maße besteht, dass sich bei ihrer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.

Das BVerfG führt sodann aus, dass dabei an die Kindeswohl- und an die Verhältnismäßigkeitsprüfung spezifische Anforderungen zu stellen sind, wenn die Sorgerechtsentziehung hinsichtlich eines bereits in einer Pflegefamilie untergebrachten Kindes in Streit steht, dessen Rückführung die Ursprungseltern zu sich begehren. Die Kindeswohlprüfung gem. § 1666 BGB muss dann die Tragweite einer Trennung des Kindes von seiner Pflegefamilie einbeziehen und die Erziehungsfähigkeit der Ursprungsfamilie auch im Hinblick auf ihre Eignung berücksichtigen, die negativen Folgen einer eventuellen Traumatisierung der Kinder gering zu halten. Eine Wiederzusammenführung von Kind und Eltern darf jedoch nicht schon dann als ausgeschlossen angesehen werden, wenn das Kind in den Pflegeeltern seine „sozialen“ Eltern gefunden hat. Denn eine Trennung des Kindes von seinen Eltern darf nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen und aufrecht erhalten bleiben.

Auch sind an der Aufrechterhaltung der Trennung besonders strenge Anforderungen zu stellen, wenn die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB bei der Wegnahme des Kindes nicht vorlagen oder wenn die ursprünglich durch § 1666 BGB begründete Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht auf einer missbräuchlichen Ausübung der elterlichen Sorge, sondern auf einem unverschuldeten Elternversagen beruhte. Insoweit schlagen sich diese strengeren Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes insbesondere in einer erhöhten Verpflichtung der beteiligten Behörden und Gerichte nieder, Maßnahmen in Betracht zu ziehen, mit denen ein Zueinanderfinden von Kind und Eltern gelingen kann. Denn auch vorhandene Defizite der Eltern sind unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ggf. durch unterstützende Hilfen zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII zu begegnen. Eine vorzeitige Aufgabe der Rückführung jedenfalls ist nicht gerechtfertigt.

Bei Zweifeln am vorhandenen Erziehungspotenzial der Eltern sind (weitere) Maßnahmen öffentlicher Hilfen in Erwägung zu ziehen. Dabei sind auch Leistungen in Betracht zu ziehen, die nach Art und Umfang über das hinausgehen können, was der Staat üblicherweise zu leisten verpflichtet ist. Nur wenn die Eltern die ihnen angebotenen Maßnahmen nicht ergreifen oder die Hilfen verweigern würden, könnte dies die Einstellung von Hilfemaßnahmen begründen. Wenn jedoch von Seiten des Jugendamtes eine Rückführung der Kinder in den elterlichen Haushalt abgelehnt wird und es deshalb zu keiner Intensivierung öffentlicher Hilfen kommt, spricht dies nicht gegen die Eignung weiterer öffentlicher Hilfen, denn notfalls müssten diese von den Eltern im Verwaltungsrechtsweg durchgesetzt werden.

BVerfG 1 BvR 725/14 vom 14.06.2014

Das BVerfG betont in der vorbenannten Entscheidung (abgedruckt in JAmt 2014, 419) abermals die Bedeutung der Rückkehroption, die insbesondere dann zu wahren ist, wenn die Einschränkungen in der Erziehungsfähigkeit der Eltern, die zur Herausnahme der Kinder aus ihrem Haushalt geführt haben, mittlerweile entfallen sind. Zudem geht das BVerfG darauf ein, ob und wie eine Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie (Kinderheim/Waisenheim) und eine Rückkehr des Kindes zu den leiblichen Eltern möglich sind.

Das BVerfG stellt abermals klar, unter welchen Voraussetzungen ein Kind überhaupt von seinen leiblichen Eltern getrennt werden oder die Trennung des Kindes von seinen Eltern aufrecht herhalten bleiben darf. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht, wobei jedoch nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat berechtigen, die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten.

Im Falle einer Rückführung ihres bereits fremd untergebrachten Kindes, sind jedoch weitere Umstände zu berücksichtigen. Zunächst sind danach bei der Kindeswohlprüfung die Tragweite einer Trennung des Kindes von seiner bisherigen Bezugsperson einzubeziehen und die Erziehungsfähigkeit der Ursprungsfamilie auch im Hinblick auf ihre Eignung zu berücksichtigen, die negativen Folgen einer eventuellen Traumatisierung der Kinder gering zu halten. Zudem gebietet es das Kindeswohl, die neuen gewachsenen Bindungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen zu berücksichtigen und das Kind aus seiner neuen Obhut nur herauszunehmen, wenn die körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von seinen bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtsposition des Kindes noch hinnehmbar sind. Ein wichtiges Kriterium dabei ist auch, ob das Kind bei Pflegeeltern, oder aber in einem Waisenhaus untergebracht ist.

Befindet sich das Kind nicht in einer Pflegefamilie, sondern in einem Waisenhaus, ist zu fragen, ob sich die Kindeswohlgefahren durch eine behutsame, insbesondere zeitlich gestreckte, Rückkehr ausräumen lassen. Sind die Eltern nicht ohne Weiteres in der Lage, den erzieherischen Herausforderungen gerecht zu werden, sind sie hierbei durch öffentliche Hilfen zu unterstützen. Zudem gilt zu beachten, dass dem Kind bei einer Rückkehr aus einem Waisenhaus ohnehin ein weiterer Wechsel der Bezugsperson bevor steht, so dass die Rückkehr zu den Eltern in dieser Hinsicht keine Mehrbelastung des Kindes bedeutet.

Sofern das Familiengericht den Eltern die Erziehungseignung abspricht, sind konkrete Darlegungen hierzu erforderlich. Zudem hat das Gericht darzulegen, dass diese Defizite der Eltern die Aufrechterhaltung der Trennung von ihrem Kind rechtfertigen und diese nicht ausgeräumt werden können. Zudem bedarf es eingehender Feststellungen darüber, inwiefern die Erziehungsdefizite der Eltern überhaupt zu einer schweren Schädigung der seelischen oder geistigen Entwicklung des Kindes führen würden.

Auch sind Feststellungen darüber zu erheben, welchen spezifischen nicht hinnehmbaren Belastungen das Kind bei einer Rückführung ausgesetzt wäre. Derartige Belastungen könnten sich aus einem Abbruch von Bindungen ergeben. Um dies jedoch annehmen zu können, sind zwingend Feststellungen hierzu erforderlich.

Das BVerfG rügt im Weiteren, dass das Familiengericht bei seiner Entscheidung einen falschen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt haben könnte, in dem es bei der Einholung des Sachverständigengutachtens im Beweisbeschluss folgende Fragen an die Sachverständige gestellt hat:

welche Sorgerechtsregelung am ehesten dem Kindeswohl entspricht“. Dabei sei „auch darauf einzugehen, inwieweit die Rückführung des Kindes zur leiblichen Mutter dem Verbleib in einer Pflegefamilie vorzuziehen“ sei.

„[Rdn. 29] Zur unzutreffenden Bejahung der Voraussetzungen der Aufrechterhaltung einer Trennung des Kindes von der Mutter mag beigetragen haben, dass das Amtsgericht insofern einen falschen Prüfungsmaßstab zugrunde gelegt haben könnte. Ausweislich des Beweisbeschlusses vom 7. Januar 2014 zur Einholung eines Sachverständigengutachtens im hier nicht gegenständlichen Hauptsacheverfahren hat das Gericht dort die Frage sachverständiger Begutachtung unterzogen, „welche Sorgerechtsregelung am ehesten dem Kindeswohl entspricht“. Dabei sei „auch darauf einzugehen, inwieweit die Rückführung des Kindes zur leiblichen Mutter dem Verbleib in einer Pflegefamilie vorzuziehen“ sei. Beide Fragen entsprechen weder dem in § 1666 BGB vorgesehenen noch dem verfassungsrechtlich gebotenen Prüfungsmaßstab, wonach die Aufrechterhaltung der Trennung nur dann zulässig ist, wenn dem Kind bei den Eltern die nachhaltige Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung droht.“

Letztlich stellt das BVerfG fest, dass die Entscheidung des Familiengerichts gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt, weil den Eltern das gesamte Sorgerecht entzogen wurde.

Zudem wurde vom Oberlandesgericht nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt, dass im Falle der Rückführung des Kindes zu den leiblichen Eltern eine den Grundrechtseingriff rechtfertigende nachhaltige Gefahr einer erheblichen Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes besteht. Bei entscheidungserheblichen Zweifeln hätte das OLG aber nähere Ermittlungen anstellen müssen. Dies gilt gleichermaßen im Eilverfahren.

Auch ist die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar.

Zudem hat sich das Gericht nicht mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit etwaige durch eine Rückführung zur Mutter entstehende Belastungen des Kindes durch mildere Mittel, gegebenenfalls unterstützt durch öffentliche Hilfemaßnahmen nach §§ 27 ff. SGB VIII, aufgefangen werden und entsprechende Rückführungshindernisse ausgeräumt werden könnten.

BVerfG 1 BvR 1822/14 vom 27.08.2014

Auch in der vorbenannten Entscheidung (abgedruckt in FamRZ 2014, 1772) setzt sich das BVerfG intensiv mit der Verhältnismäßigkeit des Sorgerechtsentzugs auseinander. Eine Herausnahme des Kindes aus dem elterlichen Haushalt ist danach nur bei einer konkreten Kindeswohlgefährdung zulässig.

Das BVerfG hat erneut festgelegt, unter welchen Voraussetzungen in einem gerichtlichen Eilverfahren Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen werden darf. Das Amtsgericht und Oberlandesgericht hatten beiden Eltern nach Einholung eines Sachverständigengutachtens das Sorgerecht vorläufig entzogen, den Vater von Umgangskontakten ausgeschlossen, aber gleichzeitig das Verbleiben der Kinder im Haushalt der Mutter angeordnet. Das Jugendamt wurde zum Vormund bestellt, weil hinsichtlich der Mutter Bedenken wegen ihrer Erziehungsfähigkeit bestünden. Im vorbenannten Beschluss hat das BVerfG ausgeführt, dass die Entscheidungen des AG und OLG nicht dem Gebot der Verhältnismäßigkeit genügen und gegen das grundgesetzlich geschützte Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verstoßen.

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern insoweit das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich dabei auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. BVerfGE 84, 168, 180; 107, 150, 173), wobei das Kindeswohl stets die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein muss (vgl. BVerfGE 60, 79, 88 m.w.N.).

Durch den Sorgerechtsentzug wird insoweit mit hoher Intensität in das Elternrecht eingegriffen. Hieran ändert sich auch nichts daran, weil das Jugendamt als Vormund beide Kinder bislang im Haushalt der Eltern belassen hat. Auch wenn den Eltern das Sorgerecht entzogen wurde und die Kinder im Haushalt der Eltern belassen werden, findet Art. 6 Abs. 3 GG als Prüfungsmaßstab Anwendung. Bei Maßnahmen, die eine Trennung des Kindes von seinen Eltern ermöglichen, ist zudem strikt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.

Wegen des sachlichen Gewichts der Beeinträchtigung der Eltern im Falle eines Sorgerechtsentzugs, der eine Trennung des Kindes von ihnen ermöglicht, unterliegt dieser strenger Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht, wobei nicht nur überprüft wird, ob die angegriffenen Entscheidungen Fehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts beruhen, sondern das BVerfG überprüft auch, ob einzelne Auslegungsfehler sowie deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts vorliegen.

Geht das Familiengericht danach in einem Abänderungsverfahren nach § 54 FamFG (Rückübertragung der elterlichen Sorge) davon aus, dass die Eltern eine Veränderung der Sach- oder Rechtslage, sowie ein dringendes Regelungsbedürfnis für die Rückübertragung des ihnen  von Amts wegen entzogenen Sorgerechts darzulegen haben, liegt ein fehlerhafter Abänderungsmaßstab des Gerichts vor.

Das Familiengericht darf auch nicht pauschal auf ein eingeholtes Sachverständigengutachten Bezug nehmen. Vielmehr hat es das Gutachten eigenständig zu verarbeiten.

Zudem hat das Familiengericht stets den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Insoweit muss die getroffene Maßnahme auch geeignet und erforderlich sein, um die vom Gericht angenommene nachhaltige Kindeswohlgefährdung abzuwehren. Fehlt es hieran, haben Sorgerechtsmaßnahmen zu unterbleiben.

BVerfG 1 BvR 1178/14 vom 19.11.2014

In der vorbenannten Entscheidung hat das BVerfG erneut entschieden, dass für die Entziehung des Sorgerechts strenge Anforderungen gelten. Es hat damit die Rechte der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG) gestärkt und damit die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Sorgerechtsentziehung unterstrichen. Das elterliche Fehlverhalten müsse so gravierend sein, dass das Kindeswohl nachhaltig gefährdet erscheint, heißt es. Das BVerfG hob damit eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm auf, weil sich dieses auf ein unzureichendes Sachverständigengutachten gestützt hatte.

Das OLG habe unzureichend geprüft, ob die Voraussetzungen in diesem Fall tatsächlich erfüllt seien. Art. 6 Abs. 3 GG erlaube eine Entziehung gegen den Willen der Eltern nur, wenn diese „versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht„. Dieses bedeutet, dass das Kind bereits einen Schaden erlitten haben muss oder eine erhebliche Schädigung mit „ziemlicher Sicherheit“ bevorstehe. Sowohl das Amtsgericht, als auch das Oberlandesgericht hätten dies jedoch nicht mit der gebotenen Sorgfalt geprüft, weil sie sich lediglich auf das Sachverständigengutachten gestützt hätten. Dessen Wertungen hätten sie weitgehend übernommen und nur im Ansatz rechtlich gewürdigt.

Zudem betont das BVerfG, dass die Eltern ihre Erziehungsfähigkeit gar nicht positiv unter Beweis stellen müssten, sondern vielmehr ihr Versagen festgestellt werden müsse. Der Staat dürfe insoweit nicht die eigenen Vorstellungen von einer guten Erziehung an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen.

Darüber hinaus bestünden ernste Zweifel an dem Gutachten, weil die Sachverständige vermutlich nicht mit der gebotenen Unvoreingenommenheit zu Werke gegangen sei.  Zahlreiche Feststellungen gingen ohne erkennbaren Zusammenhang zur jeweils aufgeworfenen Frage zu Lasten des Vaters. Vor allem werde seine Herkunft wiederholt in den Vordergrund gerückt und unsachlich negativ bewertet.

So kommt das BVerfG zu dem Schluss, dass das Gutachten als Grundlage für die Sorgerechtsentziehung ungeeignet war. Das alleine mache die OLG-Entscheidung allerdings nicht verfassungswidrig. Sie hätte dennoch einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle standhalten können, wenn das Gericht diese Mängel eingehend thematisiert hätte.

Nach der Entscheidung des BVerfG dürfen sich die Gerichte also nicht blind der Ansicht der Sachverständigen anschließen, sondern müssen sich zwingend mit deren Feststellungen auseinandersetzen. Selbst, wenn das Sachverständigengutachten völlig unverwertbar sei, so hätte die Entscheidung des OLG dennoch verfassungsgemäß sein können, wenn sich allein aus den Entscheidungsgründen eine Kindeswohlgefährdung nachvollziehbar ergeben hätte.

Nachfolgend wird eine Darstellung der zentralen Aussagen des BVerfG wiedergegeben.

Das BVerfG hat erneut festgelegt, unter welchen Voraussetzungen Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen werden darf. Das Amtsgericht und Oberlandesgericht hatten beiden Eltern nach Einholung eines Sachverständigengutachtens das Sorgerecht vorläufig entzogen, den Vater von Umgangskontakten ausgeschlossen, aber gleichzeitig das Verbleiben der Kinder im Haushalt der Mutter angeordnet. Das Jugendamt wurde zum Vormund bestellt, weil hinsichtlich der Mutter Bedenken wegen ihrer Erziehungsfähigkeit bestünden. Im vorbenannten Beschluss hat das BVerfG ausgeführt, dass die Entscheidungen des AG und OLG nicht dem Gebot der Verhältnismäßigkeit genügen und gegen das grundgesetzlich geschützte Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verstoßen.

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern insoweit das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich dabei auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. BVerfGE 84, 168, 180; 107, 150, 173), wobei das Kindeswohl stets die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein muss (vgl. BVerfGE 60, 79, 88 m.w.N.). Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt diesen Eingriff nur unter strengen Voraussetzungen.

Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern ist nach Art. 6 Abs. 3 GG daher nur zulässig,  wenn die Eltern versagen oder wenn das Kind aus anderen Gründen zu verwahrlosen droht. Dabei berechtigen nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramts die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen.

Ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, unterliegt einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung, die sich wegen des besonderen Eingriffsgewichts auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstrecken kann.

Stützt sich das Familiengericht bei seiner Entscheidung auf Feststellungen im Sachverständigengutachten, darf das Gericht diese Feststellungen nicht einfach übernehmen. Vielmehr hat es das Sachverständigengutachten einer eigenständigen tatsächlichen und rechtlichen Würdigung zu unterziehen.

Dabei gilt zu beachten, dass allein ein (unverwertbares) Sachverständigengutachten nicht dazu führt, dass dieses vom Familiengericht bei seiner Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden darf. Verwertbar kann ein Gutachten dann bleiben, wenn das Gericht die Feststellungen im Sachverständigengutachten eigenständig auf ihre rechtliche Relevanz hin ausgewertet hat.

Bei dieser Auswertung hat das Familiengericht (jedoch auch) das Leitbild des Art. 6 Abs. 2 GG zu beachten, nämlich dass Eltern grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden können, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen. Auch ist zu beachten, dass Eltern ihre Erziehungsfähigkeit nicht positiv „unter Beweis stellen“ müssen. Vielmehr setzt eine Trennung von Eltern und Kind umgekehrt voraus, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht.

Lassen sich bspw. im Gutachten Hinweise darauf finden, dass der Sachverständige den Eltern nicht mit der gebotenen Unvoreingenommenheit begegnet ist, bietet es keine verlässliche Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung, wenn das Gericht nicht dargelegt hat, inwiefern es das Gutachten gleichwohl für verwertbar hält.

Insoweit wäre gegen die Entscheidungen des Familiengerichts von Verfassungs wegen nur dann nichts einzuwenden, wenn sie die Mängel des Gutachtens thematisieren, die fachliche Qualifikation der Sachverständigen näher klären und nachvollziehbar darlegen, inwiefern Aussagen aus dem Gutachten gleichwohl verwertbar sind und zur Entscheidungsfindung beitragen können.

Kommt das Familiengericht dem nach, würde die Entscheidung des Gerichts selbst bei völliger Unverwertbarkeit der sachverständigen Begutachtung verfassungsgerichtlicher Kontrolle stand halten, wenn sich das Vorliegen einer die Trennung von Kind und Vater rechtfertigenden Kindeswohlgefährdung aus den Entscheidungsgründen auch ohne Einbeziehung der sachverständigen Aussagen hinreichend nachvollziehbar ergäbe.

Anderenfalls genügt die Entscheidung des Familiengerichts nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu stellen sind. Denn aus Art. 6 Abs. 2 und 3 GG ergibt sich für die Fachgerichte das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten. Die Fachgerichte werden dem regelmäßig nicht gerecht, wenn sie ihren Blick nur auf die Verhaltensweisen der Eltern lenken, ohne die sich daraus ergebenden schwerwiegenden Konsequenzen für die Kinder darzulegen.

Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG erlaubt dem Staat insoweit nicht, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen oder seine Vorstellungen von einer geeigneten Kindererziehung an die Stelle der elterlichen Vorstellungen zu setzen. Die Eltern und deren sozio-ökonomische Verhältnisse gehören grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes.

Insoweit führte auch ein geringes Maß an elterlicher Feinfühligkeit ohnehin nicht ohne Weiteres zu einer nachhaltigen, die Trennung rechtfertigenden Gefährdung des Kindeswohls, denn im verfassungsrechtlichen Sinne ist eine mit ziemlicher Sicherheit vorhersehbare erhebliche Schädigung des Kindes erforderlich.

Wollten die Gerichte ihre Annahme einer Kindeswohlgefahr auf ernsthaft gesundheitsgefährdendes Verhalten stützen, müssten sie dies konkret benennen. Vage Andeutungen auf eine Gefährdungssituation („schütteln“), ohne den konkreten Sachverhalt zu beschreiben und auf sein tatsächliches Gefährdungspotenzial hin zu analysieren, genügen demgegenüber nicht.

Ebenso genügt es für eine Fremdunterbringung des Kindes nicht, wenn die Fachgerichte den Kindeseltern eine Bindungsintoleranz unterstellen. Oder wenn das Gericht eine negativ-manipulative Beeinflussung des Kindes gegen den anderen Elternteil ausreichen lässt, wenn dadurch keine erhebliche Kindeswohlgefahr festgestellte werden kann. Denn ansonsten würde das Kind wegen des Fehlverhaltens eines Elternteils praktisch beide Eltern verlieren. Zudem begründet eine (mutmaßliche) ungeklärte Aufenthaltssituation des Elternteils nicht ohne Weiteres die Annahme, es liege eine Gefahr für das Kindeswohl vor, denn der Aufenthaltsstatus ist für sich genommen ohne Bedeutung für die Frage der Erziehungsfähigkeit der Eltern. Ebenfalls kann eine Kindeswohlgefährdung nicht darin gesehen werden, wenn die Eltern bspw. illegal nach Deutschland eingereist sind, weil die Umstände der Einreise der Eltern in das Bundesgebiet im familiengerichtlichen Verfahren für die Frage der Erziehungseignung nicht entscheidungserheblich sind.

BVerfG 1 BvR 1292/15 vom 29.09.2015

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Entscheidung über den Entzug wesentlicher Teile des elterlichen Sorgerechts im Wege einer einstweiligen Anordnung.

Hintergrund dieser Entscheidung waren schulische Probleme des Kindes, welche sich durch einen geplanten Umzug der Mutter nach Ansicht des Familiengerichts noch zu verstärken drohten. Gerade der geplante Umzug verdeutliche, dass die Mutter Entscheidungen nicht immer zum Wohle des Kindes treffe, so die Richter.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat nochmals den Ausnahmecharakter und die hohen Anforderungen an den vollständigen Entzug (eines Teils) des elterlichen Sorgerechts und die hohe Intensität eines solchen Grundrechtseingriffs betont. Gerade in Eilverfahren muss zuvor stets das mildestmögliche Mittel in Betracht gezogen werden.

Für den vollständigen Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts müsse sich die Entscheidung des Gerichts begründen, warum die Fremdunterbringung des Kindes so dringlich ist, dass die mit dem Abwarten einer abschließenden Sachverhaltsaufklärung in der Hauptsache verbundenen Risiken für das Kind nicht hingenommen werden können. Da dies nicht geschehen war, beruhte die angegriffene Entscheidung auf einer Verletzung des Elternrechts und war in dem beschlossenen Umfang aufzuheben.

Das BVerfG führt hierzu aus:

„[Rdn. 16] Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts, ohne die Elternverantwortung nicht ausgeübt werden kann (vgl. BVerfGE 84, 168, 180; 107, 150, 173). Allerdings kann der Staat auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zukommenden Wächteramts den Eltern das grundrechtlich geschützte Sorgerecht entziehen, wenn und soweit dies zur Wahrung des Kindeswohls erforderlich ist (vgl. § 1666 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 6, § 1666a BGB).“

„[Rdn. 17] Soweit es um die Trennung des Kindes von seinen Eltern geht, sind an die Annahme einer Gefährdung des Kindeswohls nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG hohe Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfGE 136, 382, 386 m.w.N.). Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern setzt voraus, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (vgl. BVerfGE 60, 79, 91). Dies ist der Fall, wenn bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder eine Gefahr gegenwärtig in einem solchen Maße besteht, dass sich bei ihrer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. August 2014 – 1 BvR 1822/14 -, juris, Rn. 25 m.w.N.; BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2004 – XII ZB 166/03 -, juris, Rn. 11). Maßnahmen, die eine Trennung des Kindes von seinen Eltern ermöglichen, dürfen zudem nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen (vgl. BVerfGE 60, 79, 89).“

Daran ändert sich auch nicht etwa daran etwas, wenn das Kind – trotz Sorgerechtsentzugs – vom Ergänzungspfleger weiterhin im Haushalt der Kindeseltern belassen wird, denn auf der Grundlage des ihm übertragenen Aufenthaltsbestimmungsrechts hat er die Möglichkeit, das Kind ohne weitere Mitwirkung des Familiengerichts aus ihrem Haushalt herauszunehmen.

Das BVerfG betont abermals, dass die Familiengerichte in Sorgerechtsverfahren das Verfahren so zu gestalten haben, das es geeignet ist, eine möglichst zuverlässige Grundlage zu schaffen. Sofern eine Entscheidung im Eilverfahren ansteht, unterliegt es jedoch spezifischen verfassungsrechtlichen Anforderungen, auch wenn die verfügbaren Aufklärungsmöglichkeiten angesichts der spezifischen Eilbedürftigkeit dieser Verfahren praktisch hinter den im Hauptsacheverfahren bestehenden Möglichkeiten zurück bleiben.

Gerade im Eilverfahren sind die Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung umso höher, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden des Kindes wiegt, in je größerer zeitlicher Ferne der zu erwartende Schadenseintritt liegt und je weniger wahrscheinlich dieser ist. Einfachrechtlich drückt sich diese Anforderung in der Vorschrift des § 49 Abs. 1 FamFG aus, die ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden erfordert, was voraussetzt, dass ein Abwarten bis zur Hauptsacheentscheidung nicht möglich ist, weil diese zu spät kommen würde, um die zu schützenden Interessen (hier: das Kindeswohl) zu wahren.

Da den Entscheidungen der Gerichte im Ausgangsverfahren nicht hinreichend deutlich entnehmen ließ, dass das Wohl des Kindes im Zeitpunkt der Entscheidung im Falle des Verbleibs im mütterlichen Haushalt noch nachhaltig gefährdet und eine Fremdunterbringung des Kindes erforderlich war, hob das BVerfG die Entscheidungen auf.

Der Entscheidung des OLG war auch nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass ein die Trennung des Kindes von der Mutter vorbereitender Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts zur Abwendung einer eventuell fortbestehenden Kindeswohlgefährdung noch erforderlich war und nicht mildere Mittel, insbesondere der Einsatz einer sozialpädagogischen Familienhilfe, zur Abwendung eventuell verbliebener Gefahren ausreichen.

Sofern das Gericht Zweifel an der getroffenen Entscheidung hat, hat es diese aufzuklären. Anderenfalls müsste aus der Entscheidung deutlich werden, warum die Fremdunterbringung trotz verbleibender sachlicher Zweifel so dringlich ist, dass die mit dem Abwarten der abschließenden Sachverhaltsaufklärung in der Hauptsache verbundenen Risiken für das Kind nicht hingenommen werden können.

Vor einem vollständigen Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts hat das Gericht auch zu prüfen, ob mildere Mittel in Betracht kommen. So käme beispielsweise eine Beschränkung beziehungsweise ein bloßer Teilentzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts – bezogen auf die Frage des Wegzugs vom bisherigen Wohnort – in Betracht. Einen solchen Teilentzug lässt die Regelung des § 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB nach verbreiteter Einschätzung zu.

BVerfG 1 BvR 2742/15 vom 20.01.2016

In der vorbenannten Entscheidung bestätigt das BVerfG seine Rechtsprechung zum Prüfungsmaßstab bei Fremdunterbringung von Kindern, wonach die Trennung eines Kindes von den Eltern gegen deren Willen den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht nach Art. 6 Abs. 3 GG darstellt. Eine Trennung kann danach nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Die einfachrechtliche Grundlage ist in den §§ 1666 Abs. 1, 1666 a und 1696 Abs. 2 BGB zu sehen. Dabei berechtigt nicht jedes Versagen den Staat zu Eingriffe in das Elternrecht. Insbesondere gehört es nicht zur Ausübung des Wächteramts des Staates, gegen den Willen der Eltern für die bestmöglichste Förderung der Fähigkeiten eines Kindes zu sorgen. Um die Trennung eines Kindes von den Eltern und ihre Aufrechterhaltung zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind in der Familie in seinen körperlichen, geistigen und seelischem Wohl nachhaltig gefährdet wird. Für die Frage der Rückübertragung der elterlichen Sorge kommt es darauf an, ob durch die Rückkehr der Kinder in den elterlichen Haushalt eine die Aufrechterhaltung der Trennung legitimierende nachhaltige Kindeswohlgefahr besteht. Prüfungsmaßstab ist hier § 1696 Abs. 2 BGB, der die Aufrechterhaltung der Fremdunterbringung nur gestattet, wenn weiterhin eine Gefahr für das Kindeswohl besteht.

Das BVerfG bestätigt nochmals seine bisherige Auffassung, dass Kinder keinen Anspruch auf „ideale Eltern“ haben. Weiterhin weist das BVerfG abermals darauf hin, dass die Instanzgerichte ein großes Augenmerk auf die richtige Abfassung eines Beweisbeschlusses zu legen haben.

Das BVerfG hat festgestellt, dass die angegriffenen Entscheidungen, soweit sie das Sorgerecht betreffen, die Kindeseltern in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen. Klargestellt wird abermals, dass eine Trennung des Kindes von seinen Eltern nach Art. 6 Abs. 3 GG allein zu dem Zweck zulässig ist, das Kind vor nachhaltigen Gefährdungen zu schützen. Zudem darf sie nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern und deren Aufrechterhaltung zu rechtfertigen, muss das elterliche Fehlverhalten danach ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre. Diesbezüglich kommt bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung ein strenger Kontrollmaßstab zur Anwendung, der sich wegen des besonderen Eingriffsgewichts ausnahmsweise auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstrecken kann.

Das BVerfG hat die Instanzgerichte zunächst dahingehend gerügt, da in den angegriffenen Entscheidungen nicht dargelegt wird, dass das Kindeswohl im Fall der Rückkehr der Kinder in den mütterlichen Haushalt nachhaltig gefährdet wäre.

Auch wurde gerügt, dass das OLG in seiner Entscheidung keine eigenständige Subsumtion und damit auch keine Auseinandersetzung mit dem Erfordernis einer Kindeswohlgefährdung vorgenommen hat. Vielmehr wurde lediglich formelhaft auf die seiner Auffassung nach im Ergebnis und in der Begründung zutreffenden Ausführungen des Amtsgerichts und der Sachverständigen verwiesen.

Im Sachverständigengutachten wurde jedoch gerade nicht dargelegt, dass eine kindeswohlerhebliche Gefährdungssituation besteht, welche einer Rückführung der Kinder zur Kindesmutter entgegenstehen könnte. Vielmehr ist die Sachverständige der Frage, ob den Kindern bei einer Rückkehr in den Haushalt der Mutter eine die Aufrechterhaltung der Trennung rechtfertigende Kindeswohlgefahr drohte, nicht direkt nachgegangen.

Hinzu kommt, dass sich die Gutachterin bei ihrer Empfehlung für die Aufrechterhaltung des Sorgerechtsentzugs von vornherein gar nicht auf den hier entscheidenden Gesichtspunkt einer nachhaltigen Kindeswohlgefahr, sondern auf die Herstellung möglichst guter Beziehungsbedingungen und einer möglichst kindeswohldienlichen Förderung bezogen hat. Zudem schien es so, als ob die Sachverständige eher ihre Idealvorstellungen vom Kindeswohl zum Ausdruck gebracht hat, als eine den verfassungsrechtlichen Trennungsvoraussetzungen entsprechende Vorstellung davon, was eine nachhaltige Kindeswohlgefahr ausmacht.

Zudem hat die Sachverständige die Begutachtung am Maßstab eines von ihr zugrunde gelegten Idealbilds einer elterlichen Erziehungsleistung, nicht aber im Hinblick auf eine die Trennung von Kind und Eltern rechtfertigende Kindeswohlgefahr durchgeführt, wie es aber im Fall einer Fremdunterbringung geboten wäre.

Eine Kindeswohlgefahr war auch nicht indirekt durch die weiteren Ausführungen in den Entscheidungen oder dem in Bezug genommenen Sachverständigengutachten belegt. Vielmehr haben die Entscheidungen den Blick vorrangig auf den psychischen Zustand der Kindesmutter gelenkt und sind unter Rückgriff auf einzelne Formulierungen des Sachverständigengutachtens davon ausgegangen, dass die Kindesmutter mutmaßlich unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung leide, welche sich nachteilig auf die Bindungen zu den Kindern auswirke.

Eine eigenständige Begründung hierfür wurde vom OLG jedoch nicht abgegeben, vielmehr hat es sich lediglich den Ausführungen des Amtsgerichts und des Sachverständigen angeschlossen. Dies war aber unzulässig, weil die Einschätzungen der Sachverständigen zu vage und zu spekulativ blieben.

Vor allem aber war nicht erkennbar, aufgrund welcher Umstände und welcher fachlichen Qualifikation die Sachverständige zu ihrer psychologisch und psychotherapeutisch weitreichenden Charakterisierung der Kindesmutter und der ihr zugeschriebenen Defizite gelangt ist.

Entscheidungen des BVerfG zu Fremdunterbringungen in Zahlen (Prof. Dr. Gabriele Britz)

Das BVerfG hat in den letzten Jahren zahlreiche Verfassungsbeschwerden von Eltern stattgegeben, die sich gegen den Entzug ihres Sorgerechts und die Fremdunterbringung ihrer Kinder wandten (s.o.). Zur Einordnung der Anzahl der Beschlüsse stellt Prof. Dr. Gabriele Britz, Professorin für Öffentliches Recht und Europarecht an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und Richterin des BVerfG einige – bisher nicht öffentlich verfügbare – Zahlen vor, siehe hierzu JAmt 2014, 550 ff.

 

Abschluss

Nach der Rechtsprechung des BVerfG ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 und 3 GG für die Fachgerichte das Gebot, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten. Die Fachgerichte würden dem regelmäßig nicht gerecht, wenn sie ihren Blick nur auf die Verhaltensweisen der Eltern lenken, ohne die sich daraus ergebenden schwerwiegenden Konsequenzen für die Kinder darzulegen

(vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.03.2014 – 1 BvR 2695/13; BVerfG, Beschluss vom 24.03.2014 -1 BvR 160/14; BVerfG, Beschluss vom 07.04.2014 – 1 BvR 3121/13; BVerfG, Beschluss vom 22. 05.2014 – 1 BvR 2882/13; BVerfG, Beschluss vom 22.05.2014 – 1 BvR 3190/13; BVerfG, Beschluss vom 14.06.2014 – 1 BvR 725/14; BVerfG, Beschluss vom 27.08.2014 – 1 BvR 1822/14; BVerfG, Beschluss vom 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14; BVerfG, Beschluss vom 29.09.2015 – 1 BvR 1292/15; BVerfG, Beschluss vom 20.01.2016 – 1 BvR 2742/15.

Erfolgt eine Herausnahme, dann verlangt das BVerfG die Wahrung der Rückkehroption, BVerfG, Beschluss vom 22.05.2014 – 1 BvR 2882/13.

Die Qualität von Gutachten in familiengerichtlichen Streitigkeiten wurde in der Vergangenheit vielfach bemängelt, da es keinerlei verbindliche Standards, etwa für die zu fordernde Ausbildung oder Fachrichtung der Gutachter gibt. Erste Schritte BVerfG, Beschluss vom 19.11.2014 – 1 BvR 1178/14; BVerfG, Beschluss vom 20.01.2016 – 1 BvR 2742/15. Danach müssen Familiengerichte Gutachten genau prüfen und Feststellungen im Sachverständigengutachten einer eigenständigen rechtlichen Würdigung zu unterziehen.

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