LSG-Nds.-Bremen, Beschluss vom 06.05.2015 – L 15 AS 57/15 B ER

LANDESSOZIALGERICHT
NIEDERSACHSEN-BREMEN

BESCHLUSS

L 15 AS 57/15 B ER
S 21 AS 151/15 ER Sozialgericht Bremen

In dem Beschwerdeverfahren

1. G. R., Bremen
2. B. M., Bremen
– Antragsteller und Beschwerdegegner –

Prozessbevollmächtigte:
zu 1-2: Rechtsanwälte Beier & Beier,
Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen

gegen

Jobcenter Bremen, Doventorsteinweg 48 – 52, 28195 Bremen
– Antragsgegner und Beschwerdeführer –

hat der 15. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 6. Mai 2015 in Bremen durch den Richter S. (als Vorsitzender), die Richterin S. und den Richter B. beschlossen:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Bremen vom 16. Februar 2015 ist nicht begründet.

Die vom SG erlassene einstweilige Anordnung, gerichtet auf Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Leistungsgewährung an die Antragsteller für den Zeitraum vom 30. Januar bis 31. März 2015, ist im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners haben die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG vorgelegen. Hinsichtlich des für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsgrundes nimmt der Senat gemäß § 142 Abs. 2 S. 3 SGG Bezug auf die zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss. Zutreffend hat das SG ferner hinsichtlich des Anordnungsanspruchs ausgeführt, dass die Antragsteller nach derzeitigem Sach- und Streitstand die Grundvoraussetzungen für (aufstockende) Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) erfüllen, insbesondere hilfebedürftig i. S. des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II sind. Auch hierauf nimmt der Senat zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen Bezug.

Es lässt sich nach gegenwärtiger Erkenntnislage auch nicht feststellen, dass die Antragstellerin zu 1) als bulgarische Staatsangehörige dem Leistungsausschluss für arbeitsuchende EU-Bürger nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II unterliegt (was zwischen den Beteiligten allein streitig ist). Ob sich allerdings die Auffassung des SG, dass sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin aus einer aufenthaltsrechtlichen Vorwirkung der Familiengründung (bevorstehende Entbindung) und damit nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergeben habe, im Hauptsacheverfahren wird aufrecht erhalten lassen, erscheint dem Senat zumindest zweifelhaft. In seinem den Beteiligten bekannten Beschluss vom 27. Oktober 2014 (L 15 AS 149/14 B ER) hat der Senat im Einzelnen ausgeführt, dass der vom SG auch im vorliegenden Fall herangezogenen Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Januar 2013 (B 14 AS 54/12 R) nicht die Anerkennung eines allgemeinen voraussetzungslosen Aufenthaltsrechts zur Begründung oder Aufrechterhaltung der Familieneinheit zwischen ausländischen unverheirateten Eltern und ihren gemeinsamen Kindern entnommen werden kann. Die Antragsteller, deren gemeinsames Kind am 2. April 2015 geboren ist, haben zwar im Beschwerdeverfahren eine Vaterschaftsanerkennung und eine Sorgeerklärung – jeweils vom 8. April 2015 – vorgelegt. Von einer aufenthaltsrechtlichen Vorwirkung der bevorstehenden Geburt kann im vorliegenden Fall aber deshalb nicht ausgegangen werden, weil – anders als in dem vom BSG entschiedenen Fall – das Kind nach gegenwärtiger Erkenntnislage durch die Geburt nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat und damit für die Antragstellerin ein Aufenthaltsrecht nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz als Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge nicht zu erwarten war. Nach § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 Staatsangehörigkeitsgesetz erwirbt ein Kind ausländischer Eltern durch die Geburt im Inland die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn (neben weiteren Voraussetzungen) ein Elternteil mindestens seit acht Jahren rechtmäßig seinen Aufenthalt im Inland hat. Die Antragstellerin zu 1) hat indes im Beschwerdeverfahren angegeben, dass sie sich erst seit dem Jahr 2011 in Deutschland aufhalte. Der Antragsteller zu 2), welcher ebenfalls bulgarischer Staatsangehöriger ist, besitzt seit dem 17. November 2014 eine Daueraufenthaltsberechtigung nach § 4a Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU). Eine solche setzt nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU grundsätzlich einen fünfjährigen ständigen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet voraus. Der Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung lässt darauf schließen, dass sich der Antragsteller erst im November 2014 fünf Jahre im Bundesgebiet aufhielt und er demnach zum Zeitpunkt der Geburt seines Kindes die für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit erforderliche achtjährige Aufenthaltszeit im Inland nicht vorweisen konnte.

Die Antragstellerin zu 1), die noch nicht 21 Jahre alt ist, könnte allerdings ein Aufenthaltsrechts als Familienangehörige (ihrer Mutter) nach § 3 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU haben und unter diesem Gesichtspunkt nicht dem Leistungsausschluss für arbeitsuchende EU-Bürger unterliegen. Nach dieser Norm haben die Verwandten in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen, die noch nicht 21 Jahre alt sind, als Familienangehörige das Recht auf Einreise und Aufenthalt, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Die Antragstellerin zu 1) hat bereits im Verwaltungsverfahren angegeben, vor dem Einzug in die Wohnung des Antragstellers zu 2) bei ihrer Mutter in Osnabrück gewohnt und in einer Bedarfsgemeinschaft mit der Mutter Leistungen nach dem SGB II bezogen zu haben. Diese Angaben ließen sich offenbar anhand des Programms A2LL bestätigen (vgl. interne E-Mail vom 14.11.2014, BI. 4 VA). Der Umstand der Leistungsgewährung an die Mutter spricht dafür, dass diese nicht dem Leistungsausschluss für arbeitsuchende EU-Bürger unterlag bzw. unterliegt, so dass auch die Antragstellerin als Familienangehörige i. S. des § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU nicht von diesem Leistungsausschluss erfasst wäre. Soweit die Antragstellerin ausweislich der vorgelegten Meldebestätigung seit dem 1. Oktober 2014 nicht mehr im Haushalt ihrer Mutter wohnt, sondern zusammen mit dem Antragsteller zu 2) eine Wohnung in Bremen bezogen hat, schließt dies die Annahme eines von der Mutter abgeleiteten Freizügigkeitsrechts nicht von vornherein aus. Der in § 3 Abs. 1 FreizügG/EU verwendete Begriff „begleiten oder nachziehen“ setzt eine auf Dauer bestehende gemeinsame Wohnung nicht zwingend voraus. Entscheidend ist das Vorliegen einer i. S. des Familienschutzes schutzwürdigen tatsächlichen Beziehung (vgl. Ziffer 3.1.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 3 FreizügG/EU sowie Dienelt in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 3 FreizügG/EU Rn. 12 m. w. N.). Soweit sich die Antragstellerin nach ihren Angaben im Jahr 2014 zumindest zeitweise in ihrem Heimatland bei ihrem im Sterben liegenden Vater aufgehalten hat (vgl. Aktenvermerk BI. 48 VA), würde dieser Umstand dem Fortbestand einer familiären Lebensgemeinschaft mit der weiterhin in Deutschland lebenden Mutter ebenfalls nicht ohne weiteres entgegenstehen. Dies zeigt § 4a Abs. 6 Nr. 1 und 3 FreizügG/EU, wonach der ständige Aufenthalt durch Abwesenheitszeiten bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr bzw. eine einmalige Abwesenheit von bis zu zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigem Grund nicht berührt wird.

Zu den Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts der Antragstellerin als Familienangehörige der Mutter wäre im Verwaltungsverfahren eine weitere Sachaufklärung nach § 40 Abs. 1 S. 1 SGB II i. V. m. § 20 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) erforderlich gewesen. Die Verfahrensweise des Antragsgegners, die Sach- und Rechtslage trotz der Erkenntnis, dass die Antragstellerin „über ihre Mutter wohl einen Anspruch haben könnte“, ungeklärt zu lassen, weil der Sachbearbeiter die Frage nach der Notwendigkeit einer gemeinsamen Wohnung „fachlich derzeit nicht beantworten“ konnte (vgl. interne E-Mail vom 02.12.2014, BI. 68 VA), und auf dieser Grundlage den Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts abzulehnen, entspricht nicht dem geltenden Recht.

Davon ausgehend wäre das SG berechtigt gewesen, die von ihm erlassene einstweilige Anordnung zur Abwendung einer Beeinträchtigung des verfassungsrechtlich verbürgten Existenzminimums der Antragsteller auf eine Folgenabwägung zu stützen, da eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich war (vgl. Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05). Angesichts der geltend gemachten Notlage – die Antragstellerin zu 1) war hochschwanger – war eine umgehende gerichtliche Entscheidung – wie sie hier auch erfolgt ist – geboten. Ist die einstweilige Anordnung des SG vor diesem Hintergrund im Ergebnis zu Recht ergangen, muss die Klärung der hinsichtlich der Leistungsberechtigung der Antragstellerin noch offenen tatsächlichen Fragen (Aufenthaltsstatus der Mutter, Ausmaß der bestehenden familiären Bindungen, Dauer und Zweck des Aufenthalts im Heimatland usw.) dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Ungeachtet der vorstehenden Überlegungen hätte der Beschwerde des Antragsgegners in jedem Fall der Erfolg versagt bleiben müssen, soweit sie sich gegen die vom SG ausgesprochene Verpflichtung zur vorläufigen Leistungsgewährung (dem Grunde nach) an den Antragsteller zu 2) richtet. Denn dem an den Antragsteller zu 2) adressierten Ablehnungsbescheid vom 23. Dezember 2014 liegt eine unzutreffende Berechnungsweise zugrunde. Die Antragstellerin zu 1) wäre auch im Falle einer fehlenden eigenen Leistungsberechtigung nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 lit. c) SGB II gleichwohl als Partnerin des Antragstellers zu 2) Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, bei der es sich insoweit um eine sog. gemischte Bedarfsgemeinschaft handeln würde. Dies hätte zur Folge, dass die Antragstellerin zu 1) nach Maßgabe von § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II bei der Ermittlung des Leistungsanspruchs des Antragstellers zu 2) in die Einkommensverteilung mit einzubeziehen wäre (horizontale Berechnung) und danach ein ungedeckter Bedarf des Antragstellers zu 2) verbleiben würde.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nach § 177 SGG unanfechtbar.

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