Oberlandesgericht Naumburg, Beschluss vom 18.10.2006 – 14 UF 89/05

Ist ein Kind nach längerer Zeit an ein Elternteil zurückzugeben, ist im Interesse des Kindes die Rückgabe mit einem intensiven Umgangsrecht zugunsten des Elternteils vorzubereiten und bis zur Rückkehr des Kindes zum Elternteil das Verbleiben bei der Pflegefamilie anzuordnen.

OBERLANDESGERICHT NAUMBURG BESCHLUSS

In dem Beschwerdeverfahren

betreffend die elterliche Sorge

hat der 14. Zivilsenat – 3. Senat für Familiensachen – des Oberlandesgerichts Naumburg durch die Richterin am Oberlandesgericht Hahn als Einzelrichterin am 18. Oktober 2006 beschlossen:

Tenor:

1. Auf die befristete Beschwerde der Kindesmutter wird der Beschluss des Amtsgerichts Wernigerode vom 15.06.2005, Az.: 11 F 1332/04, aufgehoben.

2. Das elterliche Sorgerecht – mit Ausnahme des Teilbereichs der Gesundheitsfürsorge, welches auf die Antragsgegnerin übertragen wird – für das am 2. Juni 2001 geborene Kind I. T. wird der Kindesmutter übertragen.

3. Es wird angeordnet, dass das Kind I. T. bei den Pflegeeltern D. in Dg. verbleibt.

4. Die Umgangsrechtsregelung (Ziffer 4 des Ausspruchs des angefochtenen Beschlusses) betreffend das Kind I. T. wird wie folgt von Amts wegen konkretisiert:

Den Kindeseltern wird Umgang mit dem Kind an jedem zweiten Wochenende in der Zeit von Samstag, ab 10.00 Uhr, bis zum darauffolgenden Sonntag, bis 17.00 Uhr, in Z. eingeräumt. Die bisherigen Umgangsausübungsmodalitäten, nämlich dass die Kindeseltern am Samstag das Kind von Dg. abholen und am Sonntag von Z. nach Dg. bringen, sollen beibehalten werden.

5. Die Entscheidung über die Beschwerde ergeht gerichtsgebühren- und auslagenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe:

I.

Die Beschwerde der Kindesmutter gegen den Sorgerechtsbeschluss des Amtsgerichts Wernigerode vom 15.06.2005 ist gemäß den §§ 621 e Abs. 1, 621 Abs. 1 Nr. 1 ZPO als befristete Beschwerde statthaft, denn sie richtet sich gegen eine im ersten Rechtszug ergangene Endentscheidung über das Sorgerecht. Sie ist zudem rechtzeitig innerhalb der einmonatigen Beschwerdefrist der §§ 621 e Abs. 3 Satz 2, 517 ZPO eingelegt worden.

II.

Die befristete Beschwerde der Kindesmutter ist auch teilweise begründet.

Denn die Grundlage für den erstinstanzlich gemäß den §§ 1666, 1666 a BGB vorgenommenen vollständigen Sorgerechtsentzug ist entfallen, sodass der angefochtene Beschluss des Amtsgerichts Wernigerode vom 15.06.2005 gemäß § 1696 Abs. 2 BGB aufzuheben ist. Allerdings hält es der Senat von Amts wegen aus Gründen des Kindeswohls für geboten, einerseits gemäß § 1632 Abs. 4 BGB eine Verbleibensanordnung zugunsten der Pflegeeltern zu treffen und andererseits gemäß § 1666 Abs. 1 BGB den Teilbereich der elterlichen Sorge, nämlich die Gesundheitsfürsorge, auf die Antragsgegnerin zu übertragen.

Zwar hat es das Amtsgericht Wernigerode zum damaligen Zeitpunkt in grundsätzlich zutreffender Weise abgelehnt, die vollständige elterliche Sorge auf die Kindesmutter zurückzuübertragen und das Kind in den Haushalt der zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheirateten Kindesmutter zurückzuführen, und den entsprechenden Antrag der Beschwerdeführerin zurückgewiesen.

Das erstinstanzliche Gericht hat sich in dem angefochtenen Beschluss sorgfältig und nachvollziehbar mit den Interessen und Argumenten aller Beteiligter auseinandergesetzt und sich letztendlich bei seiner Entscheidung richtigerweise ausschließlich am Kindeswohl orientiert. Dabei hat das Amtsgericht sich vornehmlich in nicht zu beanstandender Weise auf das Ergebnis der gerichtlich durchgeführten Anhörungen sowie die schriftlichen Ausführungen des psychologischen Sachverständigen Sch. vom 25.04.2005 gestützt und ist im Ergebnis auf Grund der gegen die Kindesmutter erhobenen Vorwürfe zu dem Schluss gekommen, das Kind nicht in deren Haushalt zurückzuführen und ihr die komplette elterliche Sorge zu entziehen.

Der Senat schließt sich insoweit nach nochmaliger Prüfung der Sach- und Rechtslage den überzeugenden Ausführungen des Amtsgerichts in dem angefochtenen Beschluss an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf diese Bezug.

Allerdings sind, wie tenoriert, gewisse Korrekturen vorzunehmen, da sich doch gravierende Umstände zwischenzeitlich ergeben haben, die zu dem damaligen Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung noch nicht vorgelegen haben.

1. Die vollständige Entziehung des nach § 1626 a Abs. 2 BGB bestehenden mütterlichen Sorgerechts ist mangels fortbestehender Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr gerechtfertigt. Der gegenteilige Beschluss des Amtsgerichts vom 15.06.2005 war mithin aufzuheben.

Die Voraussetzungen des § 1696 Abs. 2 BGB, wonach Maßnahmen im Sinne der §§ 1666, 1666 a BGB dann wieder aufzuheben sind, wenn keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes besteht, liegen vor.

Die Gefahr, die ohne Zweifel ursprünglich für das Kindeswohl im Sinne des § 1666 Abs. 1 BGB bestanden hat und die Grundlage der vom Amtsgericht getroffenen vorläufigen und letztlich auch endgültigen Sorgerechtsentziehung gewesen ist, nämlich die Vernachlässigungen des Kindes durch seine Mutter, ist hier zumindest teilweise wieder weggefallen. Eine Gefahr für das Kindeswohl ist eine gegenwärtige, in solchem Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung des Kindes eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. Palandt/Diederichsen, BGB, 65. Aufl., 2006, § 1666, Rdnr. 16). Die eigentliche Schädigung des Kindesinteresses muss künftig drohen, schon eingetretene Schäden sind weder erforderlich noch ausreichend (vgl. Staudinger/Coester, BGB, 4. Buch, 13. Aufl., § 1666, Rdnr. 79). Insbesondere wird diese für einen Sorgerechtseingriff zwingend erforderliche gegenwärtige, begründete Besorgnis der Schädigung durch vereinzelt gebliebene Vorfälle in der Vergangenheit regelmäßig nicht hervorgerufen (vgl. Staudinger/Coester, a.a.O., Rdnr. 80).

Nach Ansicht des Senats besteht aber zur Zeit bei einer Ausübung der elterlichen Sorge durch die Kindesmutter, allerdings nur in einem vorgegebenen, eingeschränkten Rahmen, keine Kindeswohlgefährdung mehr im vorstehend dargestellten Sinne. Die Verhältnisse der Kindesmutter haben sich offensichtlich konsolidiert; sie hat eine Ausbildung absolviert und versucht sich, wie auch die beteiligten Jugendämter in ihren Stellungnahmen ausgeführt haben, ebenso in beruflicher und persönlicher Hinsicht (Eheschließung mit dem Kindesvater am 26.08.2005, offensichtlich geordnete wohnliche Verhältnisse im Hause der Großeltern mütterlicherseits) wieder zu festigen.

Weitere konkrete Anhaltspunkte hingegen, aus denen sich ergeben könnte, dass die Kindesmutter auch zukünftig zur Wiederholung das elterliche Sorgerecht missachtender Handlungen, wie die Vernachlässigungen des Kindes in der Vergangenheit (§ 1666 Abs. 1 BGB), in der Lage sein könnte, die wiederum eine solch einschneidende Maßnahme des Entzugs der gesamten Personensorge nach den §§ 1666, 1666 a Abs. 2 BGB rechtfertigten, sind zumindest in der Beschwerdeinstanz von den übrigen Beteiligten nicht vorgebracht worden noch ansonsten der Verfahrensakte selbst zu entnehmen.

Auch das Gutachten des Diplompsychologen Sch. vom 24.05.2005 ist letztlich zu dem Ergebnis gelangt, dass von der Kindesmutter bei entsprechenden Auflagen und Hilfen keine Gefahr für das Kindeswohl in dem Sinne ausgeht, dass in einem überschaubaren Zeitraum damit zu rechnen wäre, dass es erneut zu Vernachlässigungen etc., die nicht zuletzt ihre Wurzeln in dem jugendlichen Alter der Kindeseltern (geboren 1981 bzw. 1982) zum Zeitpunkt der Geburt von I. hatten, wie in der Vergangenheit, kommt.

Die vollständige Entziehung der Personensorge zur Gefahrenabwehr, wie in § 1666 a Abs. 2 BGB als äußerstes Mittel vorgesehen, ist daher unter keinen Umständen – mehr – als erforderlich anzusehen.

Diese erstinstanzlich vorgenommene Maßnahme war daher nach § 1696 Abs. 2 BGB wieder aufzuheben.

Eines neuerlichen Gutachtens bedarf es insoweit nicht, da keine Anhaltspunkte für eine weiterhin bestehende Gefährdung des Kindeswohls durch ein Verhalten der Mutter gemäß § 1666 a Abs. 1 BGB ausfindig zu machen sind.

2. Allerdings hält es der Senat für geboten, von Amts wegen das der Mutter zurückübertragene Sorgerecht in Teilbereichen, nämlich betreffend das Aufenthaltsbestimmungsrecht und damit verbunden zunächst auf Grund einer zugunsten der Pflegeeltern zu treffenden Verbleibensanordnung gemäß § 1632 Abs. 4 BGB, einzuschränken.

Zwar ist eine Gefahr im Sinne des § 1666 BGB weggefallen. Allerdings liegt nunmehr eine neue, über § 1632 Abs. 4 BGB zu berücksichtigende Gefährdung des Kindeswohls darin, dass der bei seinen Großeltern väterlicherseits seit Mai 2002 untergebrachte Junge inzwischen, wie die Berichte der Jugendämter und des Sachverständigen nachdrücklich belegen, dort doch schon so stark verwurzelt ist, dass es durch eine – nach Übertragung des Sorgerechts auf die Kindesmutter nicht auszuschließende – unvermittelte Herausnahme aus der Pflegefamilie seelischen Schaden erleiden würde. Dieser Gefahr gilt es durch die Verbleibensanordnung zu begegnen.

Eine uneingeschränkte Rückübertragung der elterlichen Sorge auf die Kindesmutter gemäß § 1632 Abs. 1 BGB würde nämlich grundsätzlich auch den Anspruch beinhalten, von den Pflegeeltern die Herausgabe des Kindes zu verlangen. Dass die Kindesmutter letztendlich aber mit der Sorgerechtsübertragung gerade auch und vor allem die Herausgabe des Kindes erstrebt, ergibt sich gewissermaßen bereits aus der Natur der Sache. a) Der Senat geht zwar einerseits davon aus, dass die Kindesmutter durchaus in der Lage ist bzw. wäre, ihr Kind angemessen zu betreuen, insbesondere vor dem Hintergrund der von ihr dergestalt mit Hilfe ihres Ehemannes, dem Kindesvater, angepassten Wohn- und Berufssituation.

Doch ist andererseits im vorliegenden Fall mit Blick auf das Kindeswohl vorrangig die zwischenzeitlich zwischen dem Kind und seinen Pflegeeltern kontinuierlich über einen vierjährigen Zeitraum (von einer vor dieser Zeit liegenden Mutter-Kind-Beziehung in der Vergangenheit kann aufgrund des Sachverständigengutachtens und des von der damals noch sehr jugendlichen, sprunghaften Kindesmutter selbst eingeräumten, das Kind vernachlässigenden Verhaltens nicht die Rede sein) entstandene enge Eltern-Kind-Bindung zu berücksichtigen, und zwar im Hinblick darauf, dass eine sofortige Herausnahme des Kindes aus der Obhut der intakten, gleichermaßen zur Erziehung geeigneten und fähigen Pflegefamilie, bedingt durch die Sorgerechtsrückübertragung auf die Kindesmutter und die damit eventuell beabsichtigte Trennung des Kindes von seinen jetzigen primären Bindungspersonen, zu schwerwiegenden seelischen Problemen I. s mit womöglich irreparablen Schäden für seine weitere Persönlichkeitsentwicklung führen würde.

Der Senat vermag auf Grund eigener Sachkunde einzuschätzen, dass ein Kind, welches sehr früh nach seiner Geburt zu Pflegeeltern vermittelt wird, auf Grund seiner vitalen Bedürfnisse im Laufe der Zeit und erst recht nach dem hier maßgeblichen Zeitraum Beziehungen zu diesen entwickelt, die sich nicht von Beziehungen zu den leiblichen Eltern unterscheiden. Ferner ist davon auszugehen, dass I. als sicher gebundenes Kind die Erfahrung gemacht hat, sich auf die Unterstützung der Bindungspersonen verlassen zu können, und er über eine grundlegende Empfindung innerer Sicherheit und inneren Vertrauens in Bezug auf das Pflegeverhalten seiner Bezugspersonen verfügt. Aus der Sicht und nach den Erkenntnissen sowohl der Jugendämter, des Sachverständigen Sch. und nicht zuletzt auch der Kindesmutter selbst ist im Laufe der Zeit zwischen I. und seinen Pflegeeltern eine existenzielle Bindung gewachsen und für die Pflegeeltern eine – die biologische Mutterschaft für das Kind zumindest nebensächlich werden lassende – faktische Elternschaft begründet worden.

Demgegenüber würde die Herauslösung aus der Pflegefamilie und die Herausgabe des Kindes an seine leibliche Mutter geradezu einen Neuanfang und einen zweiten tiefen Bruch im Leben des Kindes darstellen. Gerade aber in seinen ersten prägenden Lebensjahren ist das Kind im besonderen Maße auf die Betreuung durch eine konstante Bezugsperson angewiesen, um auch für seine Entwicklung unerlässliche Bindungen eingehen zu können, wie sehr anschaulich und überzeugend der Sachverständige Sch. in seinem Gutachten ausgeführt hat.

In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass im Falle einer Trennung eines Kleinkindes von seinen Pflegeeltern die Gründe für die Trennung von diesem nicht wahrgenommen und begriffen werden könnten, mit der Folge, dass aus der Trauer des Kindes ein überwältigendes Gefühl der Bedrohung und des permanenten Misstrauens entstehen könnte, welches unter Umständen zu einer lebenslangen Belastung führen könnte.

Auch der Sachverständige Sch. hat ausdrücklich hervorgehoben, dass die engen Bezugspersonen für I. die Pflegeeltern seien. Weiter hat er ebenfalls auf den Umstand hingewiesen, dass das Kind in der Pflegefamilie einen Bindungsaufbau, der ihm ein Urvertrauen, das seiner Ansicht nach zwischen der Kindesmutter und dem Jungen zu keinem Zeitpunkt bestanden hat, ermöglicht, aufgrund der intensiven liebevollen Betreuung und Versorgung bereits nachgeholt und dort emotionale Wurzeln entwickelt habe. Ferner hat er deutlich gemacht, dass eine Trennung des Kindes, jedenfalls nicht zum jetzigen Zeitpunkt, von seinen Bezugspersonen nicht zugemutet werden könne. Der Sachverständige, ebenso wie die Jugendämter, sind auf Grund des von ihnen unmittelbar gewonnenen Eindrucks der Ansicht, dass bei einer Veränderung der bisherigen Lebenssituation eine Gefährdung des Kindeswohls in Form einer seelischen Belastung durch erneute Unruhe bei I. nicht ausgeschlossen werden könne.

Nach Aussagen aller Beteiligten ist festzustellen, dass das Kind in einer positiven Eltern-Kind-Beziehung in der Pflegefamilie lebt und dass auch seine weitere psychische und leibliche Gesundheit von der Sicherheit und Eindeutigkeit dieser Beziehung abhängt.

In Anbetracht dessen stellt nach Auffassung des Senats die Herausnahme des Kindes aus seinem vertrauten Lebensumfeld mit der einhergehenden Trennung von seinen bisherigen hauptsächlichen Bindungspersonen eine massive Gefährdung des Kindeswohls dar, weil irreversible seelische Probleme für die weitere Persönlichkeitsentwicklung wie unsägliche seelische Not, psychische Verletzung, Ängste, Desorientierung und damit eine Traumatisierung naheliegend sind. Auf Grund der Ausführungen des Jugendamtes sowie des psychologischen Sachverständigen ist der Senat daher der festen Überzeugung, dass die mit der Sorgerechtsübertragung verbundene – von der Kindesmutter auch beabsichtigte und beantragte – Trennung des Kindes aus seinem bisherigen Lebensumfeld zu schwerwiegenden psychischen Problemen mit unabsehbaren Konsequenzen für die weitere Persönlichkeitsentwicklung des Kindes führen würde. Insbesondere erscheint es dem Senat einleuchtend, dass für das fünf Jahre alte Kind die Gründe einer Trennung von seinen Pflegeeltern nicht begreiflich sein können noch begreiflich zu machen wären, sodass in der Tat eine große seelische Not und psychische Belastung für das einer rationalen Argumentation nicht zugängliche und emotional mit der Situation überforderte Kleinkind mit der Herausnahme aus dem bisherigen Familienverbund heraufbeschworen würde.

Nach alledem ist es nach Auffassung des erkennenden Senates erforderlich, dass das Kind auch zukünftig dort verbleibt, um eine anderenfalls drohende, nicht unerhebliche Gefährdung des Kindeswohls anzuschließen.

b) In Anbetracht der obigen Erwägungen erscheint es weder in der Sache sinnvoll noch prozessual geboten, von Amts wegen ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen. Denn auf Grund der bisherigen Ermittlungsergebnisse und der in concreto nicht weiter, vor allen Dingen hypothetisch nicht weiter erforschbaren Psyche des Kleinkindes ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass von einem zusätzlichen Gutachten keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten sind (zur Zulässigkeit des Absehens von der Einholung eines weiteren Gutachtens: BVerfG, FamRZ 2000, S. 1489, 1490), jedenfalls nicht in der Richtung erwartet werden können, dass die Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie angesichts der daraus nachgerade zwangsläufig resultierenden Probleme für das Kind, entgegen allen bisherigen Erkenntnissen, nun gerade nicht mehr seinem Wohl abträglich sein könnte.

c) Die Entscheidung steht auch in Einklang mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Schutz von Kind und Familie gemäß Artikel 6 GG. Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung die als Folge eines länger andauernden Pflegeverhältnisses gewachsenen Bindungen zwischen Pflegekind und Pflegeeltern anerkannt und folglich auch die Pflegefamilie unter den Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 3 GG gestellt, falls es namentlich bei der Herausnahmeabsicht zu einer Interessenkollision zwischen dem Kind und seinen Eltern sowie den Pflegeeltern zu kommen droht. Da letztendlich das Kindeswohl maßgebend ist, ermöglicht gerade § 1632 Abs. 4 BGB in interessengerechter Weise auch solche Entscheidungen, die aus der Sicht der leiblichen Eltern nicht akzeptabel sein mögen, weil sie sich in ihrem Elternrecht beeinträchtigt fühlen (vgl. BVerfGE 68, 176, 190). Wenn eine schwere und nachhaltige Schädigung des körperlichen oder seelischen Wohlbefinden des Kindes bei seiner Herausgabe zu erwarten ist, kann allein die Dauer und Intensität des Pflegeverhältnisses zu einer Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB führen (vgl. BVerfGE, a.a.O., S. 190). Davon ist hier, wie bereits des Näheren ausgeführt, definitiv auszugehen.

Die dem Gesetz Rechnung tragende Entscheidung des Senats, der Kindesmutter nicht uneingeschränkt die elterliche Sorge zurückzuübertragen, verletzt sie daher auch nicht in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Denn die nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtliche Gewährung des Elternrechtes hat in erster Linie den Zweck, dem Schutz des Kindes zu dienen. Damit ist das Kindeswohl (vgl. § 1697 a BGB) grundsätzlich die oberste Richtschnur der im Bereich des Kindschaftsrechts zu treffenden Entscheidungen der Gerichte (BVerfG, FamRZ 2000, S. 1489), von welcher Direktive sich der Senat bei seiner Entscheidung auch allein maßgeblich hat leiten lassen.

Diese Entscheidung entspricht auch dem Gebot der Geeignetheit der gewählten Maßnahme. Geeignet und damit erforderlich können nur Maßnahmen sein, die die Kindessituation objektiv verbessern. Erforderlich und verhältnismäßig kann aber auch immer nur der geringstmögliche Eingriff sein. Genügt z. B. eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB, so bedarf es keines einschneidenderen Eingriffs in das Sorgerecht durch dessen vollständigen Entzug nach § 1666 BGB mehr (vgl. Staudinger/Coester, a. a. O., § 1666 Rdnr. 183 m. zahlr. Nachw.). Wenn aber eine Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB und der damit zwangsläufig verbundene Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechtes ausreichend ist, so kann der völlige Entzug der Personensorge niemals verhältnismäßig im Sinne der oben dargelegten Grundsätze sein. Auch diese Erwägung verdeutlicht, dass die angefochtene Entscheidung des Amtsgerichts Wernigerode vom 15.06.2005 keinen Bestand haben kann und daher aufzuheben war.

3. Allerdings ist das Sorgerecht der Kindesmutter insoweit einzuschränken, als die Gesundheitsfürsorge als Teil des Sorgerechtes bei den Pflegeeltern verbleiben muss, da anderenfalls das körperliche Wohl des Kindes gefährdet wäre (§ 1666 Abs. 1 BGB). Die Kindesmutter war de facto nicht ansatzweise in der Lage, sich um die Gesundheit, sei es im Hinblick auf die Ernährung oder medizinische Versorgung, hinreichend zu kümmern. Hingegen haben die Pflegeeltern, ausgesucht von dem vormaligen Einzelvormund, nachhaltig und intensiv die diesbezügliche Betreuung, und zwar in kurzer Zeit mit großem Erfolg, durchgeführt. Anhaltspunkte, wie die Kindesmutter gleichermaßen zukünftig mit dieser gebotenen Intensität die gesundheitliche Fürsorge für das Kind bewerkstelligen will, hat sie nicht dargelegt. Ganz im Gegenteil ergibt sich aus den Ausführungen der Jugendämter und des Sachverständigen, dass die Kindesmutter hierzu (noch) nicht in der Lage ist.

Die Gesundheitsfürsorge kann daher nur sachgerecht von den Pflegeeltern (bzw. Einzelvormund), nicht jedoch von der nicht jederzeit sofort zur Verfügung stehenden Kindesmutter ausgeübt werden. Das Verbleiben dieses Teilbereiches der elterlichen Sorge beim Einzelvormund bzw. bei den von ihm ausgewählten Pflegeeltern war mithin zwecks Abwendung einer Gefahr für das Kindeswohl unumgänglich.

4. Allerdings hat die Anhörung des Kindes am 12.09.2006 eindeutig ergeben, dass es sehr an seinen „richtigen“ Eltern hängt und öfters mit ihnen zusammen sein möchte. Die Erklärungen des Kindes sprechen für sich und bedürfen keiner weiteren Kommentierung im Hinblick auf seine Gefühlslage, wie auch die übrigen Beteiligten im Termin am 12.09.2006 zu verstehen gegeben haben, dass sie sich an den Bedürfnissen und Wünschen I. s orientieren wollen und sich bemühen werden, im Kindeswohlinteresse auch ihre persönlichen Spannungen hintenanzustellen. Denn, das war allen Erschienenen klar, vorrangig ist das Kindeswohl, das es zu respektieren gilt und das die Richtschnur auch für das Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und den Großeltern väterlicherseits sein soll.

Daher hält es der Senat für erforderlich, eine am Kindeswohl orientierte Regelung diesbezüglich zu konkretisieren, die auch das Recht der Kindesmutter und auch des Kindesvaters, den Kontakt zu ihrem Sohn allmählich und behutsam zu intensivieren, um eine positive Eltern-Kind-Beziehung aufzubauen, berücksichtigt, sodass nach Einschätzung des Senats eine Umgangsrechtsgestaltung, wie tenoriert, mit Übernachtung, dem ausdrücklichen Wunsch des Kindes entsprechend, bei den Kindeseltern, angemessen und kindgerecht, aber ebenso erforderlich erscheint (§ 1684 BGB), um einerseits der Pflege der wechselseitigen Beziehungen im notwendigen Maße Rechnung zu tragen und andererseits einer Überforderung des mit einer Vielzahl umgangsberechtigter Personen konfrontierten Kindes entgegenzuwirken.

Insoweit ist es zwingend erforderlich, den Umgang nunmehr behutsam zwischen Sohn und seinen Eltern wieder im zweiwöchigen Turnus mit Übernachtung zu aktivieren, nicht zuletzt auch aus dem Grunde heraus, um die Spannungen zwischen dem Kindesvater und seinen Eltern, den Pflegeeltern von I. , nicht erneut in dem zuvor doch recht heftigen Rahmen wieder aufleben zu lassen und das Kind damit erneut zu konfrontieren.

Mit der nunmehr getroffenen Umgangsregelung wird auch vermieden, dass das Kind sich einem Loyalitätskonflikt gegenüber sieht, welcher es eindeutig erneut überfordern und die nunmehr in sein Leben eingekehrte Ruhe wieder zunichte machen würde.

Den Kindeseltern und den Großeltern väterlicherseits ist daher aufs Schärfste bewusst zu machen, dass ihr Konflikt nicht auf dem Rücken des Kindes ausgetragen werden darf. Durch den zwar noch eingeschränkten, aber offensichtlich dem Wunsch des Kindes entsprechenden Umgangskontakt besteht auch die Chance, ihre Probleme mit der gebotenen sachlichen Distanz vom Kind fern zu halten.

III.

Die Entscheidung zur Gerichtsgebühr des Beschwerdeverfahrens folgt aus § 131 Abs. 3 KostO, wonach die Beschwerde gebührenfrei ist, wenn sie, wie hier anzunehmen, im Interesse der minderjährigen Person eingelegt worden ist.

Die Entscheidung zu den außergerichtlichen Kosten beruht, der Billigkeit entsprechend, auf § 13 a Abs. 1 Satz 1 FGG in Verb. mit den §§ 621 a Abs. 1 Satz 1, 621 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.

Der allein für die außergerichtlichen Kosten maßgebliche Geschäftswert des Beschwerdeverfahrens ist, ausgehend von § 23 Abs. 2 und 3 RVG, zweckmäßigkeitshalber von Amts wegen nach Maßgabe des § 131 Abs. 2 KostO in Verb. mit § 30 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 KostO bestimmt worden.

IV.

Der bereits im Anhörungstermin vom 12.09.2006 festgelegte Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren ist gemäß § 131 Abs. 2 KostO in Verb. mit § 30 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 KostO bestimmt worden.

Fundstelle: FamRZ 2007, 1351; OLGReport-Naumburg 2007, 543

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