Sozialgericht Bremen, Beschluss vom 22.01.2014 – S 26 AS 2520/13 Er

SOZIALGERICHT BREMEN
BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit
1. …, Bremen,
2. …, Bremen,
3. …, Bremen, vertreten durch …, Bremen,
Antragsteller,

Prozessbevollmächtigte:
zu 1-3: Rechtsanwälte Beier & Beier,
Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen, Az.: – F/2013/020 (EA2) –

gegen

Jobcenter Bremen, vertreten durch den Geschäftsführer, Doventorsteinweg 48 – 52, 28195 Bremen, Az.: –
Antragsgegner,

hat die 26. Kammer des Sozialgerichts Bremen am 22. Januar 2014 durch ihren Vorsitzenden, Richter Dr. S., beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig unter dem Vorbehalt der Rückforderung für den Zeitraum vom 17.12.2013 bis zum  31.05.2014, längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) in gesetzlicher Höhe unter Berücksichtigung der laufenden Kosten der Unterkunft der Antragsteller in der X-Str. in Bremen in tatächlicher Höhe zu erbringen.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.

Der Antragstellerin zu 1.) wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Beier als Prozessbevollmächtigter beigeordnet.

GRÜNDE

I.

Die Antragsteller begehren die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe, wobei die Höhe der zu übernehmenden Kosten der Unterkunft im Streit steht.

Die Antragsteller haben am 17.12.2013 um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachgesucht. Sie tragen im Wesentlichen vor, die Kosten ihrer Unterkunft in der X-Str. in Bremen nebst Heizkosten betrügen aktuell insgesamt 739,96 € monatlich und schlüsseln dies im Einzelnen auf. Sie vertreten die Auffassung, ihnen stünde eine Übernahme der Kosten in voller, tatsächlicher Höhe, jedenfalls aber in Höhe eines um 10% erhöhten Betrages nach § 12 Wohngeldgesetz (WoGG) zu.

Die Antragsteller beantragen,

den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen vorläufig ab Antragseingang bei Gericht, ggf. für sechs Monate, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er vertritt im Wesentlichen die Auffassung, die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft sei anhand § 12 WoGG ohne einen 10%igen Zuschlag zu ermittelten, weshalb die Kosten vorliegend — wie bewilligt — nur in Höhe von 517.- € (zzgl. Heizkosten) zu übernehmen seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den sonstigen Inhalt der Verfahrensakten Bezug genommen, die der gerichtlichen Entscheidungsfindung zugrunde gelegen haben.

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann vor Entscheidung in der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn dies zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Ein hierauf gerichteter Antrag ist hinsichtlich des „Ob“ einer Regelungsanordnung begründet, wenn ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund vorliegen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO), ein gerichtliches Ermessen bezüglich des „Ob“ besteht insoweit nicht). Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn der Hauptsacheanspruch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit besteht (Maßstab der Glaubhaftmachung, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG I.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn dem Antragsteller ohne eine entsprechende Regelung im Wege der einstweiligen Anordnung wesentliche Nachteile drohen, die eine vorläufige Regelung notwendig erscheinen lassen. (Vgl. insgesamt Krodel in Beck’scher Online-Kommentar (BeckOK), § 86b SGG, Rn. 67 ff. m.w.N.).

Darüber hinaus kann es in verfassungskonformer Auslegung des § 86b Abs. 2 SGG im Einzelfall insbesondere aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG)) heraus geboten sein, eine Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen der Beteiligten unter Berücksichtigung der hypothetischen Folgen bei Versagung bzw. Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sowie einer eventuellen, das Hauptsacheverfahren erledigenden Wirkung der einstweiligen Anordnung durchzuführen. Dies kann insbesondere dann angezeigt sein, wenn zwar das Bestehen des Hauptsacheanspruchs an sich nicht mit hinreichender, überwiegender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, aber die Folgen der Versagung einer einstweiligen Anordnung für den Antragsteller besonders schwerwiegend wären und deshalb dennoch eine einstweilige Anordnung in Betracht zu ziehen ist. (Vgl. insgesamt Krodel in BeckOK, § 86b SGG, Rn. 75 ff.).

Vorliegend ergibt eine Folgenabwägung hinsichtlich eines Anspruchs auf Übernahme der vollen Kosten der Unterkunft aus § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) ein Anspruch auf vorläufige Übernahme der tatsächlichen Kosten der Unterkunft in voller Höhe. Nach dieser Norm werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners steht einem entsprechenden Anspruch vorliegend im Ergebnis insbesondere nicht die dort vorgesehene Begrenzung auf eine angemessene Höhe entgegen. Denn es kann im Rahmen der Erkenntnismöglichkeiten des Eilverfahrens nicht festgestellt werden, dass die tatsächlichen Kosten unangemessen sind.

Der Antragsgegner greift zur Bestimmung einer Angemessenheitsgrenze auf Regelungen des Wohngeldgesetzes zurück. Dieses stellt jedoch — mit oder ohne prozentualen Zuschlag — keinen geeigneten Maßstab zur Bestimmung einer Angemessenheitsgrenze dar und entspricht insbesondere nicht den Anforderungen an ein sogenanntes schlüssiges Konzept im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Zwar ist in der BSG-Rechtsprechung anerkannt, dass ein Rückgriff auf das WoGG in Betracht kommt, wenn eine Ermittlung im Sinne eines schlüssigen Konzeptes für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nicht mehr oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich ist Vorliegend ist jedoch kein in der Vergangenheit liegender Zeitraum, sondern ein aktueller Leistungsanspruch gegenständlich. Hier dürften entsprechende Ermittlungen nicht unmöglich oder besonders erschwert sein. Daher werden diese voraussichtlich antragsgegnerseitig bzw. bei Unterlassung in einem anschließenden Klageverfahren hinsichtlich einer Hauptsacheentscheidung nachzuholen sein.

Da die entsprechenden Erkenntnisse in einem dem vorliegenden Eilverfahren angemessenen Zeitraum nicht zu erlangen sind, kann eine Angemessenheitsgrenze vorliegend nicht bestimmt werden. Auch für eine Schätzung oder ein ähnliches Vorgehen bietet das WoGG dabei zur Überzeugung des Gerichts keinen geeigneten Ansatzpunkt, da ihm keinerlei konkrete Ermittlungen zum aktuellen Bremer Wohnungsmarkt zugrunde liegen, sondern es nur eine grobe regionale Differenzierung nach Stufen kennt. Nachdem sich auch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Wohnung etwa dem „Luxussegment“ zuzuordnen wäre — und daher auch in Unkenntnis einer abstrakten Angemessenheitsgrenze als offenkundig unangemessen eingestuft werden könnte —, kann eine Unangemessenheit der Kosten der Unterkunft vorliegend nicht festgestellt werden.

Nach alledem können im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens keine belastbaren Feststellungen zur Angemessenheit der Kosten der Unterkunft getroffen werden. Danach ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, die zugunsten der Interessen der Antragsteller ausgeht.

Dabei steht rein fiskalischen Interessen des Antragsgegners zunächst die Tatsache gegenüber, dass es sich beim Wohnen um einen zeitnah zu deckenden Grundbedarf als Teil des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums handelt, hinsichtlich dessen regelmäßig ein Abwarten einer Hauptsacheentscheidung unzumutbar ist. Diesem Aspekt kommt dabei zur Überzeugung des Gerichts die weitaus größere Bedeutung zu. Die Folgen der Versagung einer einstweiligen Anordnung für die Antragsteller, nämlich der bei Entstehung von Mietschulden absehbar drohende Wohnungsverlust oder aber die bei „Querfinanzierung“ aus dem Regelsatz laufend bestehende Bedarfsunterdeckung im Bereich des dadurch zu gewährleistenden Existenzminimums, wären — jedenfalls im Verhältnis zu den rein fiskalischen Interessen des Antragsgegners — auch besonders schwerwiegend. Hinzu kommt, dass die Unmöglichkeit hinreichender Feststellungen auf unzureichende Ermittlungen seitens des Antragsgegners zurückzuführen ist, die nach Überzeugung des Gerichts nicht den Antragstellern zum Nachteil gereichen dürfen und dazu führen, dass keine überhöhten Anforderungen an den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung gestellt werden dürfen.

Es bleibt dem Antragsgegner insoweit selbstverständlich unbenommen, hinreichende Ermittlungen zur Angemessenheit der Kosten der Unterkunft nachzuholen und anschließend ggf. eine Kostensenkungsaufforderung vorzunehmen.

Schließlich erscheint es sachgerecht, die Leistungen in Orientierung an § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II sowie im Hinblick auf etwaige Nachermittlungen und Kostensenkungsmaßnahmen seitens des Antragsgegners zunächst auf einen Zeitraum von sechs Monaten und damit bis zum 31.05.2014 zu beschränken.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Die PKH-Bewilligung zugunsten der Antragstellerin zu 1.) folgt aus § 73a Abs, 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 114 Satz 1, 121 Abs. 2 ZPO. Hinsichtlich der weiteren Antragsteller ist der PKH-Antrag mangels Vorlage einer Erklärung über die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht entscheidungsreif.

RECHTSMITTELBELEHRUNG

Gegen die Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist für den Antragsgegner die Beschwerde statthaft. Sie ist binnen eines Monats nach Zustellung beim Sozialgericht Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Straße 1, 29223 Celle oder der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Bewilligung der Prozesskostenhilte beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 114 Satz 1, 121 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO).

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