SG Bremen, Beschluss vom 17.11.2017 – S 23 AS 2254/17 ER

SOZIALGERICHT BREMEN
BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

Prozessbevollmächtigte:

zu 1-5: Rechtsanwälte Beier & Beier, Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen, Az.: – F/2017/062 (EA2) –

Antragsteller,

gegen

Jobcenter Bremen, vertreten durch die Geschäftsführerin, Doventorsteinweg 48 – 52, 28195 Bremen,

Antragsgegner,

hat die 23. Kammer des Sozialgerichts Bremen am 17. November 2017 durch Richterin am Sozialgericht N. -in Vertretung der Kammervorsitzenden- beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller vom 22. September 2017 gegen den Entziehungsbescheid des Antragsgegners vom 19. September 2017 wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.

GRÜNDE

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller vom 22. September 2017 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 19. September 2017 hat Erfolg.

Nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage – wie vorliegend gemäß § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) – keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat dann zu erfolgen, wenn der zugrundeliegende Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig ist. Denn in diesen Fällen ist ein öffentliches Interesse an einer sofortigen Vollziehbarkeit generell nicht gegeben. Erweist sich der Verwaltungsakt jedoch nach der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen nur summarischen Prüfung als rechtmäßig, hat eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu unterbleiben.

Nach diesen Maßstäben ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen, weil erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Entziehungsbescheids bestehen, so dass kein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Umsetzung erkennbar ist.

Ermächtigungsgrundlage für den Entziehungsbescheid ist § 66 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I). Danach kann der Leistungsträger die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, wenn derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach §§ 60-62, 65 SGB nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat die Antragstellerin zu 1) vorliegend nicht gegen ihre Mitwirkungspflichten verstoßen.

Soweit der Antragsteller sich auf sein Mitwirkungsschreiben vom 23. August 2017 bezieht, mit dem er von der Antragstellerin zu 1) eine Kopie der Bescheinigung über das Bestehen des Daueraufenthaltsrechts angefordert hat, wird darauf hingewiesen, dass diese Bescheinigung keine Beweisurkunde über eine erhebliche Tatsache darstellt. Nach § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I hat derjenige, der Sozialleistungen beantragt, alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind (Nr. 1) und entsprechende Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen (Nr. 3).

Ob eine Tatsache erheblich ist, entscheidet sich danach, ob der Leistungsträger diese Information für die Entscheidung über die Sozialleistung benötigt. Tatsächlich war vorliegend das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts bzw. der entsprechende Nachweis hierüber nicht notwendig, um einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu begründen. Denn ein solcher folgt bereits aus dem seit über fünf Jahren andauernden gewöhnlichen Aufenthalt der Antragstellerin zu 1) in Deutschland.

Die Antragstellerin zu 1) ist nach Lage der Akten jedenfalls nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II dem Grunde nach leistungsberechtigt, da sie 1984 geboren, erwerbsfähig und hilfebedürftig ist und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland habt.

Soweit der Antragsgegner davon ausgeht, dass sich die Antragstellerin zu 1) auf kein materielles Aufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU stützen kann, vermag die Kammer dieser Einschätzung nicht entgegentreten.

Vorliegend greift jedoch die Rückausnahme nach § 7 Abs. S. 4 (1. Halbsatz) SGB II, wonach abweichend von Satz 2 Nummer 2 Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen SGB II-Leistungen erhalten, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Dies ist hier der Fall. Mithin haben die Antragsteller einen Anspruch auf SGB II-Leistungen. Nach Aktenlage und vom Antragsgegner bislang auch nicht in Abrede gestellt, hält sich die Antragstellerin zu 1) bereits seit Ende 2009 durchgehend in Deutschland auf.

Soweit der Antragsgegner die Auffassung vertritt, dass dieser Aufenthalt jedoch in Ermangelung eines Aufenthaltsrechts rechtswidrig sei, wird darauf hingewiesen, dass dies i.R.d. § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht zu berücksichtigen ist, solange ein Verlust des Aufenthaltsrechts i.S.v. § 6 Freizügigkeitsgesetz/EU nicht festgestellt worden ist. Insoweit wird auch auf die Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch verwiesen (BT-Drs. 18/10211). Hierin heißt es (S. 14 -Hervorhebung durch die Unterzeichnerin-):

„(…)

Ist allerdings abzusehen, dass ausländische erwerbsfähige Personen ohne materielles Freizügigkeits-oder Aufenthaltsrecht dauerhaft oder jedenfalls für einen längeren Zeitraum in Deutschland verbleiben werden und damit eine Verfestigung des Aufenthaltes eintritt, soll für sie – sofern sie erwerbsfähig sind – nach fünf Jahren das Leistungsrecht des SGB II und damit auch der Grundsatz des Förderns und Förderns uneingeschränkt gelten. Dann stehen ihnen und ihren Familienmitgliedern bei Hilfebedürftigkeit Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu. Dazu gehören im SGB II nicht nur die „passiven“ Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, sondern auch aktivierende Maßnahmen einschließlich der Sanktionsregelungen. Von einem längeren verfestigten Aufenthalt in Deutschland ist nach Ablaufeines gewöhnlichen Aufenthalts von mindestens fünf Jahren ab Meldung bei der Meldebehörde auszugehen (vergleiche § 7 Absatz 1 Satz 4 und 5 – neu -); durch die verpflichtende Meldung bei der Meldebehörde dokumentieren die Betroffenen ihre Verbindung zu Deutschland, die Voraussetzung für eine Aufenthaltsverfestigung ist. Diese Frist ist angelehnt an den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts, setzt jedoch im Gegensatz zu diesem keine materielle Freizügigkeitsberechtigung voraus. Sollte die Ausländerbehörde allerdings feststellen, dass ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Absatz 1 FreizügG/EU nicht (mehr) besteht, ist der Aufenthalt nicht mehr verfestigt. Die Personen sind nach § 7 Absatz 1 Satz 1 FreizügG/EU zur Ausreise verpflichtet.

(…)“

Sollte die Antragstellerin zu 1) -wie vom Antragsgegner behauptet wird- Termine beim Migrationsamt nicht wahrgenommen haben, kann der Antragsgegner hieraus jedenfalls keinen Leistungsausschluss herleiten. Es obliegt dem für Verlustfeststellungen nach § 6 Freizügigkeitsgesetz/EU zuständigen Amt, entsprechende Maßnahmen einzuleiten, um eine etwaige Verlustfeststellung auch ohne (freiwillige) persönliche Vorsprache der Antragstellerin zu 1) in die Wege zu leiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Unter Berücksichtigung eines monatlichen Leistungsanspruchs der Antragsteller i.H.v. über 1200 € (Bewilligungszeitraum gemäß des Bewilligungsbescheids vom 27. April 2017 bis Ende Mai 2018) wird der Beschwerdewert vorliegend erreicht.

RECHTSMITTELBELEHRUNG

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde statthaft. Sie ist binnen eines Monats nach Zustellung beim Sozialgericht Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, schriftlich oder in elektronischer Form nach Maßgabe der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr im Land Bremen vom 18,12.2006 (Brem. GBl. S. 548) in der jeweils aktuellen Fassung oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Straße 1, 29223 Celle oder der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder in elektronischer Form nach Maßgabe der Niedersächsischen Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr in der Justiz vom 21.10.2011 (Nds. GVBI. S. 367) in der jeweils aktuellen Fassung oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

gez. N.
Richterin am Sozialgericht

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