SG Bremen, Beschluss vom 23.02.2017 – S 33 SO 17/17 ER

Sozialgericht Bremen
Beschluss

In dem Rechtsstreit

M. V., Bremen
Antragsteller,

Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Beier & Beier, Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen,

gegen

Stadtgemeinde Bremen, vertreten durch die Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport, – Referat 13 -, Bahnhofsplatz 29, 28195 Bremen, Az.:
Antragsgegnerin,

hat die 33. Kammer des Sozialgerichts Bremen am 23. Februar 2017 durch ihren Vorsitzenden Richter am Sozialgericht Dr. B. beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid vom 19. November 2016 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

GRÜNDE

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid vom 19. November 2016 ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache) auf Antrag 1. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen, 2. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen, 3. in den Falten des § 86a Abs. 3 die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise wiederherstellen.

Dem Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 19. November 2016 kam nach der Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG) durch Bescheid der Antragsgegnerin vom 2. Februar 2017 keine aufschiebende Wirkung mehr zu, so dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 SGG statthaft ist.

Der Antrag ist auch begründet. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG ist durch die Antragsgegnerin rechtswidrig erfolgt.

Mit dem Bescheid vom 19. November 2016 reduzierte die Antragsgegnerin die dem Antragsteller im Rahmen eines Dauerverwaltungsaktes gewährte Leistung nach Art 51 Pflegeversicherungsgesetz ab Januar 2017 um den Betrag, den der Antragsteller ab Januar 2017 als höhere Leistung der Pflegekasse nach § 37 Abs. a Satz 3 SGB XI (in Höhe von 545 EUR statt zuvor 458 EUR Pflegegeld) bezieht.

Mit Bescheid vom 2. Februar 2017 ordnete sie die sofortige Vollziehung an und führte zur Begründung aus, die dem Antragsteller gewährte Leistung nach Art 51 PflegeVG solle sicher stellen, dass durch die Einführung der Pflegeversicherung 1995 kein Leistungsempfänger nach § 69 BSHG schlechter gestellt wird. Zur Wahrung des Besitzstands würden danach höhere Leistungen nach dem BSHG weiter gewährt und das nach dem SGB XI gewährte Pflegegeld dazu angerechnet. Mit dem Zweck der Regelung des Art. 51 PflegeVG, eine Schlechterstellung zu verhindert, sei es – auch unter Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes – nicht zu vereinbaren, dass eine höhere Leistung – also eine Besserstellung – durch Mittel der Allgemeinheit finanziert werde, sei es auch nur für die Dauer des Widerspruchsverfahrens. Der Antragsteller sei durch die Regelung des Art. 51 PflegeVG gegenüber Pflegebedürftigen, die erst nach 1995 pflegebedürftig geworden wären, bereits bessergestellt. Das Interesse des Antragstellers an den höheren Leistungen müsse daher zurückstehen.

Gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5. 1. Alt. SGG kann die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen hat, in den Fällen die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse ist. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist eine Ausnahme vom Regelfall des § 86a Abs. 1 SGG. Nach dieser Vorschrift hat ein Rechtsbehelf grundsätzlich selbst dann aufschiebende Wirkung, wenn die angegriffene Verwaltungsentscheidung rechtmäßig ist. Für die Vollziehungsanordnung ist deshalb ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, welches den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts z.B. NVwZ 1996, 58, 59 mit weiteren Nachweisen). Das besondere öffentliche Interesse muss gerade an der sofortigen Vollziehung bestehen. Auch fiskalische Interessen können dabei ein besonderes öffentliches Interesse begründen, jedoch bei Geldförderungen nur dann, wenn deren Vollstreckung konkret, d.h. auf Grundlage der Einzelfallumstände, gefährdet erscheint.

In formaler Hinsicht muss die Behörde bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes das besondere Interesse hieran gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG schriftlich begründen. Aus dieser Begründung muss hervorgehen, warum im konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse am Sofortvollzug überwiegt und warum dies dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entspricht. Die Begründung muss auf den konkreten Einzelfall bezogen in nachvollziehbarer Weise die Erwägungen erkennen lassen, die die Behörde zur Anordnung der sofortigen Vollziehung veranlasst haben.

Im Rahmen der der sachlichen Prüfung der Voraussetzungen des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG hat das Gericht eine eigenständige Interessenabwägung vorzunehmen zwischen dem öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug und dem privaten Aufschubinteresse, die sich u.a. an den wahrscheinlichen Erfolgsaussichten orientiert. Dabei ist zu beachten, dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG die Regel, die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG die Ausnahme darstellt.

Zwar hat die Antragsgegnerin die Anordnung der sofortigen Vollziehung begründet. Der danach herangezogene Gesichtspunkt, es entspreche nicht dem Gesetz, eine Besserstellung des Antragstellers aus allgemeinen Mitteln auch nur für die Dauer des Widerspruchsverfahrens zu finanzieren, kann jedoch das erforderliche besondere Vollzugsinteresse nicht begründen; vielmehr erschöpft sich dieser Gesichtspunkt in der rechtmäßigen Gesetzesanwendung und geht damit gerade nicht über jenes Interesse hinaus, welches den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt.

Auf den möglichen Gesichtspunkt, die – ggf. überzahlten – Leistungen könnten nach Abschluss des Widerspruchs- oder Klageverfahrens wegen der finanziellen Verhältnisse des Antragstellers nicht wieder eingebracht werden, hat die Antragstellerin dagegen nicht ab- gestellt.

Ein Fall, im dem das besondere Vollzugsinteresse schon aus der Eigenart der Regelung folgt, liegt nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

HINWEIS

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 € nicht übersteigt und wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr nicht im Streit sind (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG in Verbindung mit § 144 Abs. 1 SGG).

gez. Dr. B.
Richter am Sozialgericht

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