SG Bremen, Beschluss vom 15.08.2017 – S 48 AS 1611/17 ER

SOZIALGERICHT BREMEN
BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

D. E., Bremen,
Antragsteller,

Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Beier & Beier, Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen, Az.: – F/2017/047 (EA) –

gegen

Jobcenter Bremen, vertreten durch den Geschäftsführer, Doventorsteinweg 48 -j52, 28195 Bremen, Az.:
Antragsgegner,

hat die 48. Kammer des Sozialgerichts Bremen am 15. August 2017 durch ihre Vorsitzende, Richterin am Sozialgericht Dr. S., beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 12.07.2017 gegen den Aufhebungsbescheid des Antragsgegners vom 03.07.2017 wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

GRÜNDE

1. Der am 31.07.2017 beim Sozialgericht Bremen gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 12.07.2017 gegen den Aufhebungsbescheid des Antragsgegners vom 03.07.2017 hat Erfolg. Es handelt sich hierbei um den nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 39 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) im Eilverfahren gegen Leistungsaufhebungen statthaften Rechtsbehelf. Der Antrag ist zulässig und begründet.

Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder einer Klage gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist begründet, wenn das private Interesse des Antragstellers, den Vollzug des Bescheides bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides überwiegt. Bei der Interessenabwägung sind insbesondere die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen. Die aufschiebende Wirkung ist in der Regel anzuordnen, wenn sich der angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtswidrig erweist. Wird eine Klage hingegen voraussichtlich erfolglos bleiben, überwiegt im Regelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids. Im Übrigen bedarf es einer Interessenabwägung. Hierbei sind insbesondere das vom Gesetzgeber vorgesehene Regel-/Ausnahmeverhältnis für den Eintritt der aufschiebenden Wirkung, der Grad der Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens und das Gewicht der dem Kläger bei Vollzug des Bescheides drohenden Nachteile zu berücksichtigen (vgl. im Einzelnen: Keller in Meyer- Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 86b Rn 12 ff. m.w.N.).

Im vorliegenden Verfahren überwiegt das Suspensivinteresse des Antragstellers das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des im Widerspruchsverfahren angefochtenen Bescheides vom 03.07.2017, mit welchem der Antragsgegner die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom 13.12.2016 ab dem 31.07.2017 aufgehoben hat. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen erhebliche Bedenken an der Rechtmäßigkeit des Bescheides.

Ermächtigungsgrundlage der Entscheidung ist § 40 Abs. 4 SGB II. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, mit dem über die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch abschließend entschieden wurde, mit Wirkung für die Zukunft ganz aufzuheben, wenn in den tatsächlichen Verhältnissen der leistungsberechtigten Person Änderungen eintreten, aufgrund derer nach Maßgabe des § 41a vorläufig zu entscheiden wäre. Gemäß § 41a Abs. 1 Satz 1 SGB II ist über die Erbringung von Geld- und Sachleistungen vorläufig zu entscheiden, wenn 1. zur Feststellung der Voraussetzungen des Anspruchs auf Geld- und Sachleistungen voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist und die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen oder 2. ein Anspruch auf Geld- und Sachleistungen dem Grunde nach besteht und zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist.

Durch die mit dem 9. SGB II-Änderungsgesetz eingeführte neue Regelung in Absatz 4 des § 40 SGB II wird den Jobcentern ermöglicht, eine endgültige Leistungsbewilligung durch eine vorläufige Entscheidung nach § 41a SGB II zu ersetzen. Die Regelung ist als lex specialis zu § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zu verstehen. Die Besonderheit von Absatz 4 liegt darin, dass die Behörde zur Aufhebung einer bindenden Bewilligung ermächtigt wird, wenn und obwohl noch gar nicht klar ist, ob die eingetretene Änderung der Verhältnisse tatsächlich wesentlich im Sinne von § 48 SGB X ist (vgl. Kallert in: Gagel, SGB II, 66. EL Juni 2017, § 40 Rn. 121). Nach den Gesetzesmaterialien soll zum Beispiel der Beginn einer selbständigen Tätigkeit während eines laufenden Leistungsbezugs Anwendungsfall für § 40 Abs. 4 SGB II sein (vgl. BT-Drs. 18/8041, S. 49). Die Behörde muss dabei für den Zeitraum nach der Aufhebung eine neue (vorläufige) Bewilligungsentscheidung treffen. Soweit die dafür erforderlichen Tatsachen noch nicht bekannt sind, sind sie zu ermitteln (BT- Drs. 18/8041, a.a.Ö.). Zu beachten ist weiter, dass die Aufhebung nach § 40 Abs. 4 SGB II – obwohl der Betroffene aufgrund einer vorläufigen Entscheidung regelmäßig weiterhin Leistungen, ggf. sogar in unveränderter Höhe erhält – einen eingreifenden Verwaltungsakt darstellt, weil die bereits abschließend eingeräumte Rechtsposition als solche wieder beseitigt wird (Kallert, in; Gagel, a.a.O., Rn. 127). Der Betroffene ist also regelmäßig nach § 24 Abs. 1 SGB X anzuhören.

Dem im laufenden Bezug von SGB II-Leistungen stehenden Antragsteller wurden zuletzt mit Bescheid vom 13.12.2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.01.2017 bis 31.12.2107 in Höhe von monatlich € 934,- bewilligt. Nachdem der Antragsgegner von einem Polizeibericht vom 16.05.2017 Kenntnis erlangte, hob er mit dem streitgegenständlichen Aufhebungsbescheid vom 03.07.2017 die Leistungsbewilligung auf. Gleichzeitig bewilligte er mit weiterem Bescheid vom 03.07.2017 Leistungen für die Zeit vom 01.08.2017 bis 31.12.2017 vorläufig und unter Berücksichtigung eines Einkommens in Höhe von € 450 abzüglich des Freibetrags. Laut des Polizeiberichts (Bl. 106 der Leistungsakte) hat der Beifahrer des zu diesem Zeitpunkt fahrzeugführenden Antragstellers, Herr D. M., bei einer allgemeinen Verkehrskontrolle angegeben, er sei von Beruf Maler und habe den Antragsteller als Fahrer auf € 450-Basis bei sich angestellt. Soweit ersichtlich, ist der Antragsteller vor Erlass des Aufhebungsbescheids nicht angehört worden.

Es ist bereits fraglich, ob eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen des Antragstellers eingetreten ist. Der Antragsteller selbst behauptet im vorliegenden Eilverfahren, keine Beschäftigung auszuüben und kein Einkommen zu erzielen. An dieser Einlassung bestehen zwar aufgrund des Polizeiberichts vom 16.05.2017 Zweifel. Der für eine Aufhebung nach § 40 Abs. 4 SGB II erforderliche Eintritt einer Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen könnte aber nur angenommen werden, wenn die Aufnahme einer Beschäftigung feststünde. Das ist hier nicht der Fall. Die Aussagen des Beifahrers und möglichen Arbeitgebers in der Situation der allgemeinen Verkehrskontrolle genügen nicht, um von einer „festgestellten“ Beschäftigung ausgehen zu können. Weitere Ermittlungen zur Überprüfung dieser Angaben hat der Antragsgegner offenbar nicht durchgeführt. Darüber hinaus ist fraglich, ob dem Antragsteller aus einer solchen Beschäftigung tatsächlich Einkommen in der angenommenen Höhe zufließt. Auch hier hält das Gericht es nicht für ausreichend, allein von den Angaben des Herrn M. in dem Polizeibericht auszugehen.

Demnach kann jedenfalls nach Aktenlage nicht davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzungen einer Aufhebung der Leistungsbewilligung nach § 40 Abs. 4 SGB II erfüllt sind. Die insoweit erforderliche weitere Sachverhaltsaufklärung muss dem laufenden Widerspruchsverfahren Vorbehalten bleiben, da es grundsätzlich dem Antragsgegner obliegt, schon vor der Ersetzung einer abschließenden Leistungsbewilligung durch eine vorläufige Entscheidung alle für die Entscheidung bedeutsamen Umstände zu ermitteln (§ 20 SGB X). Hier dürften beispielsweise die Akten des ebenfalls im SGB II-Bezug stehenden möglichen Arbeitgebers beizuziehen und Kontoauszüge des Antragstellers anzufordern sein.

Über den hilfsweise gestellten Antrag, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller ab 01.08.2017 monatlich weiterhin € 934,00 auszuzahlen, ist aufgrund des Erfolgs des Hauptantrags nicht mehr zu entscheiden.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

RECHTSMITTELBELEHRUNG

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde statthaft. Sie ist binnen eines Monats nach Zustellung beim Sozialgericht Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen, schriftlich oder in elektronischer Form nach Maßgabe der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr im Land Bremen vom 18.12.2006 (Brem. GBl. S. 548) in der jeweils aktuellen Fassung oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.

Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Straße 1, 29223 Celle oder der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, Am Wall 198, 28195 Bremen schriftlich oder in elektronischer Form nach Maßgabe der Niedersächsischen Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr in der Justiz vom 21.10.2011 (Nds. GVBI. S. 367) in der jeweils aktuellen Fassung oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

gez. Dr. S.

Richterin am Sozialgericht

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