SG Stade S 6 AS 905/12 ER

In dem Rechtsstreit

U. B., Schwanewede,
Antragsteller,

Proz.-Bev.: Rechtsanwälte Beier und Beier, Oslebshauser Heerstraße 20, 28239 Bremen,

gegen

Landkreis Osterholz, vertreten durch den Landrat, Osterholzer Straße 23, 27711 Osterholz-Scharmbeck,
Antragsgegner,

hat das Sozialgericht Stade – 6. Kammer – am 7. Dezember 2012 durch die Vorsitzende, Richterin am Sozialgericht G., beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 29. Oktober 2012 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 2. Oktober 2012 wird angeordnet.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen den (Sanktions-) Bescheid des Antragsgegners vom 2. Oktober 2012, mit welchem dieser eine erste wiederholte Pflichtverletzung, den Umfang (60 %) und den Zeitraum einer Minderung (1. November 2012 bis 31. Januar 2013) sowie den verbleibenden Auszahlungsanspruch im Minderungszeitraum festgestellt hat.

Der im November 1956 geborene Antragsteller bezieht laufend von dem Antragsgegner Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Mit Bescheid vom 23. März 2012 bewilligte der Antragsgegner ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 1. April bis zum 30. September 2012 in Höhe von insgesamt 754,00 EUR (Regelleistung in Höhe von 374,00 EUR und Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 380,00 EUR) monatlich. Am 24. April 2012 schloss der Antragsteller mit der ProArbeit, kommunale Anstalt des öffentlichen Rechts (kAöR) des Antragsgegners, eine Eingliederungsvereinbarung für die Zeit vom 24. April bis zum 23. Oktober 2012. Als Ziel der Eingliederungsvereinbarung wurde die Integration des Antragstellers in den Arbeitsmarkt festgesetzt. Als Pflichten des Antragstellers wurden u.a. festgelegt die Durchführung von Beratungsterminen im zeitlichen Abstand von (in der Regel) 14 Tagen sowie die Versendung von zehn Bewerbungen zweiwöchentlich im Umkreis von 50 Kilometern in den Berufsfeldern Bürohelfer/ Bürokraft, Kaufmann, Baukalkulator. Mit Bescheiden vom 24. Juli 2012 und 25. Juli 2012 minderte der Antragsgegner das Arbeitslosengeld (Alg) II des Antragstellers jeweils um 10 % der Regelleistung für die Zeit vom 1. August bis zum 31. Oktober 2012. Mit weiteren Bescheiden vom 3. August 2012 und 20. August 2012 minderte der Antragsgegner das Alg II des Antragstellers jeweils um 10 % der Regelleistung für die Zeit vom 1. September bis zum 30. November 2012. Mit weiterem Bescheid vom 21. August 2012 minderte der Antragsgegner das Alg II des Antragstellers nach § 31a Abs. 1 SGB II in einer ersten Stufe um 30 % der Regelleistung ebenfalls für die Zeit vom 1. September bis zum 30. November 2012. Soweit ersichtlich, hat der Antragsteller gegen die Bescheide vom 24. und 25. Juli 2012, 3. und 20. August 2012 sowie vom 21. August 2012 keinen Widerspruch erhoben.

Auf den Folgeantrag des Antragstellers vom 24. September 2012 bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 25. September 2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Oktober 2012 bis zum 31. März 2013. Aus dem anliegenden Berechnungsbogen ergibt sich, dass der Antragsgegner für den Monat Oktober 2012 eine Minderung des Leistungsbetrages in Höhe von 261,80 EUR (entspricht 70 % der Regelleistung) und für den Monat November 2012 eine Minderung des Leistungsbetrages in Höhe von 187,00 EUR (entspricht 50 % der Regelleistung) berücksichtigt hat. Soweit ersichtlich, hat der Antragsteller auch gegen den Bescheid vom 25. September 2012 keinen Widerspruch erhoben.

Mit Bescheid vom 26. September 2012 minderte der Antragsgegner das Alg II des Antragstellers für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 31. Dezember 2012 um weitere 10 % der Regelleistung. Soweit ersichtlich, hat der Antragsteller auch gegen diesen Bescheid keinen Widerspruch erhoben.

Bereits mit Schreiben vom 2. Juli 2012, 9. Juli 2012, 23. Juli 2012 und 30. Juli 2012 hatte die ProArbeit kAöR dem Antragsteller verschiedene Stellenangebote unterbreitet. Er war aufgefordert worden, sich jeweils innerhalb einer festgesetzten Frist bei den genannten Firmen zu bewerben bzw. die gegen eine Bewerbung sprechenden Gründe darzulegen. Die Stellenangebote enthielten unter dem Stichwort „wichtiger Hinweis“ jeweils Ausführungen zu Pflichtverletzungen, Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen und Beginn und Dauer einer Minderung des Leistungsbetrages (§§ 31 bis 31b SGB II). Der Zugang der Stellenangebote beim Antragsteller ist streitig. Nachdem der Antragsteller der Aufforderung der ProArbeit kAöR zur Bewerbung nicht nachgekommen war, hörte die ProArbeit kAöR ihn mit Schreiben vom 12. September 2012 zu der beabsichtigten Minderung des Leistungsbetrages in einer zweiten Stufe um 60 % der Regelleistung an. Mit Schreiben vom 24. September 2012 rügte der Antragsteller, seine gesundheitliche Situation sei völlig außer Acht gelassen worden und verwies auf verschiedene Erkrankungen. Ferner trug er sinngemäß vor, nicht mobil zu sein, weil er nicht über ein Fahrzeug verfüge, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel von seinem Wohnort aus unmöglich sei und er aus gesundheitlichen Gründen eine Strecke von 12 km (zur ProArbeit kAöR) auch nicht mit dem Fahrrad zurücklegen könne. Er führte aus, zumutbare Stellenangebote habe es in der Zeit seit Abschluss der Eingliederungsvereinbarung nicht gegeben. Die von dem Antragsgegner vorgegebenen Beratungstermine seien nicht erforderlich gewesen. Ferner verwies der Antragsteller auf sein dem Antragsgegner bekanntes Vorhaben, sich selbständig zu machen und rügte die nicht gewährte Förderung derselben.

Mit Bescheid vom 2. Oktober 2012 minderte der Antragsgegner das Alg II des Antragstellers nach § 31a Abs. 1 SGB II in einer zweiten Stufe um 60 % der Regelleistung für die Zeit vom 1. November 2012 bis zum 31. Januar 2013. Zur Begründung führte er aus, der Antragsteller habe sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis geweigert, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit nach § 16d SGB II oder eine mit einem Beschäftigungszuschuss nach § 16e SGB II geförderte Arbeit aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch sein Verhalten verhindert. Einen wichtigen Grund für sein Verhalten habe er nicht dargelegt und nachgewiesen. Seine schriftliche Äußerung vom 24. September 2012 gegenüber der ProArbeit kAöR könne zu keinem anderen Ergebnis führen. Über die Rechtsfolgen seines Handelns sei er vorher schriftlich belehrt worden. Aus dem dem Bescheid vom 2. Oktober 2012 anliegenden Berechnungsbogen ergibt sich, dass der Antragsgegner für den Monat November 2012 eine Minderung des Leistungsbetrages in Höhe von 448,80 EUR (entspricht 120 % der Regelleistung) berücksichtigt hat.

Gegen diesen Bescheid hat der anwaltlich vertretene Antragsteller am 29. Oktober 2012 Widerspruch erhoben. Zur Begründung des Widerspruchs hat er ausgeführt, der angegriffene Bescheid vom 2. Oktober 2012 sei unbestimmt, und die mit Schreiben vom 24. September 2012 vorgetragenen Einwendungen des Antragstellers seien nicht hinreichend berücksichtigt worden. Im Übrigen habe der Antragsteller im Juli 2012 keine Stellenangebote von dem Antragsgegner erhalten; unter Berufung auf § 37 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) fordert der Antragsteller einen Nachweis über den Zugang der Stellenangebote. Soweit ersichtlich, hat der Antragsgegner über den Widerspruch des Antragstellers noch nicht entschieden.

Der Antragsteller hat am 1. November 2012 einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Zur Begründung nimmt er Bezug auf die Ausführungen im Rahmen der Widerspruchsschrift vom 29. Oktober 2012 und betont erneut, zunächst müsse der Antragsgegner den Nachweis der Unterbreitung, d.h. des Zugangs der Stellenangebote im Juli 2012 führen. Sodann sei zu prüfen, ob bei dem Antragsteller eine Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliege, welche ein wichtiger Grund für das Unterlassen der Bewerbungen sein könnte. Der Antragsgegner sei verpflichtet, das Vorliegen der Erwerbsfähigkeit von Amts wegen zu ermitteln. Auch sei die Zumutbarkeit der vorgeschlagenen Tätigkeiten zu prüfen. Ergänzend führt der Antragsteller aus, eine Bewerbungsverpflichtung des Antragstellers aufgrund der abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung vom 24. April 2012 habe auch deshalb nicht bestanden habe, weil allein die Verpflichtung des Antragstellers zur Versendung von zehn Bewerbungen wöchentlich ohne Regelung über die Kostenerstattung der Bewerbungen evident rechtswidrig sei. Abschließend hat der Antragsteller vorgetragen, eine 60 %-ige Sanktionierung führe dazu, dass das soziokulturelle Existenzminimum des Antragstellers in verfassungsrechtlich unzulässiger Art und Weise unterschritten werde.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 29. Oktober 2012 gegen den Sanktionsbescheid des Antragsgegners (60 % Kürzung des Alg II-Regelbedarfs im Zeitraum vom 1. November 2012 bis zum 31. Januar 2013) vom 2. Oktober 2012 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abzulehnen.

Der Antragsgegner meint, der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Sollte der Antragsteller mit seinem Antrag erfolgreich sein, wären die Leistungen des Antragstellers für den Monat November 2012 immer noch um 50 % der maßgeblichen Regelleistung gekürzt. Der Antragsteller hätte demnach einen Zahlungsanspruch in Höhe von 187,00 EUR. Er habe bereits 155,00 EUR als Wertgutscheine erhalten. Der Antragsgegner hätte im Falle des Obsiegens des Antragstellers eine neue Ermessensentscheidung bezüglich der Sachleistungen für den Monat November 2012 zu treffen. Ein Zahlungsanspruch, der über 27,00 EUR (= 187,00 EUR – 155,00 EUR) hinausgehe, ergebe sich bei einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung auch dann nicht, wenn der Antragsgegner sein Ermessen dahingehend ausüben würde, dass dem Antragsteller Sachleistungen bewilligt werden. Für den Monat Dezember 2012 wäre der Leistungsbetrag nach Wegfall der Sanktion um 60 % nur noch in Höhe von 10 % gekürzt, wenn nicht eine weitere Kürzung hinzutreten würde. Allerdings sei der Antragsteller bereits zu einer weiteren Pflichtverletzung angehört worden. Für den Monat Januar 2013 gelte entsprechendes; darüber hinaus habe der Antragsteller gegenüber der Gemeinde Schwanewede erklärt, dass er ab dem 1. Januar 2013 keine Grundsicherungsleistungen mehr benötige.

Der Antragsgegner meint, der angegriffene Bescheid vom 2. Oktober 2012 sei offensichtlich rechtmäßig. Die Voraussetzungen der §§ 31 Abs. 1 Nr. 2, 31a Abs. 1 SGB II lägen vor. Es sei nicht glaubhaft, dass der Antragsteller im Juli 2012 keine Stellenangebote von der ProArbeit erhalten habe; diese seien nicht gebündelt versandt worden. Der Antragsgegner gehe mangels anderslautender Atteste o.ä. davon aus, dass der Antragsteller voll erwerbsfähig sei. Ungeachtet dessen, dass der Sanktionsbescheid vom 2. Oktober 2012 nicht auf eine Nichterfüllung der in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten des Antragstellers gestützt werde, sei diese auch nicht wegen des Fehlens einer Regelung über die Erstattung der Kosten für Bewerbungen unwirksam. Dem Antragsteller sei aus der Vergangenheit die Erstattungspraxis des Antragsgegners bekannt.

Der Antragsgegner weist darauf hin, dass der Bescheid vom 21. August 2012 bzgl. der Minderung in einer ersten Stufe um 30 % bestandskräftig sei. Abschließend meint der Antragsgegner, der Antragsteller habe eine Eilbedürftigkeit nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller hat Sachleistungen in Höhe von 86,00 EUR für Oktober 2012 und in Höhe von 155,00 EUR für November 2012 in Anspruch genommen. Mit Bescheid vom 21. November 2012 verfügte der Antragsgegner den vollständigen Wegfall des ALG II für den Zeitraum vom 1. Dezember 2012 bis zum 28. Februar 2013. Der Antragsteller hat angekündigt, diesen gesondert anfechten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners ist zulässig und begründet.

Der Antrag ist statthaft. Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung u.a. in durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Ein derartiger Fall liegt vor: Gemäß § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs feststellt, keine aufschiebende Wirkung. Dementsprechend hat der Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 2. Oktober 2012 keine aufschiebende Wirkung, da der angegriffene Bescheid eine erste wiederholte Pflichtverletzung und eine Minderung des Auszahlungsanspruchs um 60 % der Regelleistung feststellt.

Ein Rechtsschutzbedürfnis für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs besteht. Dieses ist gegeben, wenn die erstrebte gerichtliche Entscheidung dem Antragsteller einen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil bringen kann (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer: SGG, 10. Auflage 2012, § 86b Rdnr. 7a). Dieses ist vorliegend der Fall, obgleich der Antragsgegner auf Antrag des Antragstellers Sachleistungen nach § 31a Abs. 3 SGB II erbracht hat. Denn die Sachleistungen unterscheiden sich von der begehrten Regelleistung wesentlich dadurch, dass der Antragsteller über letztere frei verfügen kann, demgegenüber die Sachleistungen zweckgebunden sind.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist auch begründet. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist begründet, wenn das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs, das so genannte Aussetzungsinteresse, gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsaktes, dem so genannten Vollzugsinteresse, überwiegt. Ob das der Fall ist, beurteilt sich maßgeblich anhand einer Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Hat der Rechtsbehelf in der Hauptsache aller Voraussicht nach Erfolg, so geht das Aussetzungs- dem Vollzugsinteresse vor und die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs ist anzuordnen. Im umgekehrten Fall, wird also der Rechtsbehelf in der Hauptsache aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben, überwiegt in aller Regel das Vollzugs- gegenüber dem Aussetzungsinteresse und der Antrag ist abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten nicht abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei der Grad der Aussichten des Hauptsacheverfahrens mit zu berücksichtigen ist. Es gilt der Grundsatz: Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer sind die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Umgekehrt sind die Anforderungen an die Erfolgsaussichten umso geringer, je schwerer die Verwaltungsmaßnahme wirkt oder rückgängig gemacht werden kann. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung nicht erginge, die Klage aber später Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, der Klage aber später der Erfolg zu versagen wäre (Keller a.a.O. Rdnr. 12 f. m.w.N.). Bei der Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber in § 39 Nr. 1 SGB II die sofortige Vollziehung angeordnet hat; davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar ist (Keller, a.a.O. Rdnr. 12 c).

Im vorliegenden Fall überwiegt das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 2. Oktober 2012. Denn dieser ist (jedenfalls) rechtswidrig, soweit im Rahmen der Ermittlung des Auszahlungsbetrages die Minderungen des Auszahlungsanspruchs in einer ersten Stufe um 30 % und in einer zweiten Stufe um 60 % der Regelleistung kumulierend berücksichtigt wurden.

Rechtsgrundlage für die verfügte Feststellung der Pflichtverletzung und der Minderung des Leistungsanspruchs ist § 31a Abs. 1 Satz 1, 2 und 4 i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II. Nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II mindert sich das Arbeitslosengeld II bei einer Pflichtverletzung in einer ersten Stufe um 30 % des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs. Nach Satz 2 der Norm mindert sich das Arbeitslosengeld II bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II um 60 % des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs. Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn bereits zuvor eine Minderung festgestellt wurde (Satz 4). Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II verletzen erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit nach § 16d SGB II oder ein nach § 16e SGB II gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern.

Mit Bescheid vom 25. September 2012 hat der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Oktober,2012 bis zum 31. März 2013 bewilligt. Aus dem anliegenden Berechnungsbogen ergibt sich, dass der Antragsgegner für den Monat Oktober 2012 eine Minderung des Leistungsbetrages in Höhe von 261,00 EUR (entspricht 70 % der Regelleistung) und für den Monat November 2012 eine Minderung des Leistungsbetrages in Höhe von 187,00 EUR (entspricht 50 % der Regelleistung) und damit u.a. eine Minderung des Auszahlungsanspruch nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II um 30 % der Regelleistung berücksichtigt hat. Diesen Bescheid hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 26. September 2012 – weitere Minderung des Auszahlungsanspruchs um 10 % der Regelleistung – und mit dem angegriffenen Bescheid vom 2. Oktober 2012 – weitere Minderung des Auszahlungsanspruchs nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II um 60 % Regelleistung geändert. Aufgrund des dem Bescheid vom 2. Oktober 2012 anliegenden Berechnungsbogens ist ersichtlich, dass der Antragsgegner eine Minderung des Arbeitslosengeldes II in Höhe von insgesamt 120 % und damit eine kumulierende Absenkung (3-fache Minderung von 10 %, Minderung von 30 % und Minderung von 60 %) vorgenommen hat. Dieses ist unzulässig. Für die stufenweise erhöhte Sanktionierung bei Meldeverstößen hat das Bundessozialgericht (BSG) bei weiterer Obliegenheitsverletzung innerhalb eines laufenden Sanktionszeitraums eine „kumulierende“ Absenkung durch zeitgleiche Minderung infolge mehrerer paralleler Absenkungsbescheide abgelehnt. Dieser Ansatz, dass bei zusätzlichen Obliegenheitsverletzungen innerhalb eines laufenden Sanktionszeitrums die vorangegangene Kürzungsstufe um die nächste Kürzungsstufe nicht durch parallele Absenkungsbescheide ergänzt, sondern von dieser – durch Erlass eines die neue erhöhte Sanktionsstufe regelnden Änderungsbescheids -abgelöst wird, ist auf die Pflichtverletzung nach § 31a Abs. 1 SGB II übertragbar (Berlit in LPK-SGB II, 4. Auflage 2011 § 31a Rdnr. 21 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 9. November 2010 – B 4 AS 27/10 R -).

Das Gericht sieht davon ab, die aufschiebende Wirkung nur teilweise anzuordnen. Die Teilaufhebung eines Verwaltungsakts und dem entsprechend die teilweise Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist nur möglich, wenn ein Teil des Verwaltungsakts selbständig und unabhängig von dem anderen bestehen bleiben bzw. aufgehoben werden kann, zwischen den Teilen kein unabdingbarer Zusammenhang besteht, ein Teil durch die Aufhebung eines anderen Teils keinen anderen Inhalt erlangt und anzunehmen ist, dass der Verwaltungsakt auch nur mit dem rechtmäßigen Teil erlassen worden wäre. Ist eine Teilaufhebung nicht möglich, muss das Gericht den ganzen Verwaltungsakt kassieren (Keller, a.a.O. § 131 Rdnr. 3b).

Danach wäre vorliegend die Teilaufhebung des Bescheides des Antragsgegners vom 2. Oktober 2012 bzw. die teilweise Anordnung der aufschiebenden Wirkung möglich, und zwar insoweit der Antragsgegner das Arbeitslosengeld II in der Zeit vom 1. bis zum 30. November 2012 um insgesamt mehr als 90 % der Regelleistung gemindert hat. Voraussetzung für die (nur) teilweise Anordnung der aufschiebenden Wirkung wäre allerdings, dass der Bescheid des Antragsgegners vom 2. Oktober 2012 im Übrigen, d.h. hinsichtlich der Feststellung einer ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II, nicht zu beanstanden ist und der hiergegen erhobene Widerspruch voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat.

Im vorliegenden Fall sind die Erfolgsaussichten des Widerspruchs nicht abschätzbar. Der Antragsteller hat gegen die Feststellung der Pflichtverletzung verschiedene Einwendungen erhoben; u.a. hat er seinen Widerspruch damit begründet, die Stellenangebote vom 2. Juli 2012, 9. Juli 2012, 23. Juli 2012 und 30. Juli 2012 nicht erhalten zu haben. Der Antragsgegner hat dem entgegen gesetzt, es erscheine wenig glaubhaft, dass der Antragsteller gerade alle Stellenangebote aus dem Monat Juli 2012 nicht bekommen haben möchte. Dieser Vortrag reicht nicht aus, um zur vollen Überzeugung des Zugangs der Stellenangebote zu gelangen.

Für den Zugang und Inhalt des Arbeits- bzw. Vermittlungsangebots trägt der Leistungsträger die Darlegungs- und objektive Beweislast (Berlit in LPK-SGB II § 31 Rdnr. 27 m.w.N.). Es besteht keine Vermutung für den Zugang des formlos mit der Post übersandten Schreibens; Postsendungen können verloren gehen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 15. Mai 1991 – 1 BvR 1441/90). Auch wenn nach der Lebenserfahrung die weitaus größte Anzahl der abgesandten Briefe beim Empfänger ankommt, ist damit lediglich eine mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit für den Zugang einer Briefsendung gegeben, ein Nachweis eines bestrittenen Zugangs kann in der Aufgabe zur Post nicht gesehen werden (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juli 2007 -B 132 R 4/06 R m.w.N.; zitiert nach LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12. Janu¬ar 2009 – L 5 B 94/08 AS ER).

Ob der Nachweis des Zugangs der Stellenangebote vom 2. Juli 2012, 9. Juli 2012, 23. Juli 2012 und 30. Juli 2012 geführt werden kann, muss einer weiteren Sachverhaltsaufklärung im Widerspruchs- bzw. ggf. im Klageverfahren vorbehalten bleiben. Der Antragsgegner wird in eigener Zuständigkeit zu prüfen haben, ob in den Fällen, in denen wiederholt der Zugang von Schreiben bestritten wird, die Bekanntgabe durch Zustellung erfolgen sollte.

Die damit gebotene allgemeine Interessen- und Folgenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus. Denn durch die Minderung des Auszahlungsanspruch um (weitere) 60 (X) der Regelleistung entfallen über einen Zeitraum von drei Monaten (vgl. § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II) monatlich 224,40 EUR. Dieser Minderungsbetrag ist von existenzieller Bedeutung und wird durch die erbrachten Sachleistungen (im Wert von 155,00 EUR für November 2012) nicht ausgeglichen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG nicht anfechtbar. Nach dieser Norm ist die Beschwerde ausgeschlossen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wenn in der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre. Dies ist der Fall, wenn die Beschwer den Schwellenwert für eine zulassungsfreie Berufung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG – dieser Wert beträgt 750,00 EUR – nicht erreicht. Dieses ist vorliegend der Fall. Der Wert der Beschwer beträgt 673,20 EUR (= 60 % von 374,00 EUR/Monat x 3 Monate).

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