Sozialgericht Stade, Beschluss vom 14.03.2014 – S 8 AS 27/14 ER

In dem Rechtsstreit

V. S., Ritterhude
– Antragstellerin –

Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Beier und Beier, Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen

gegen
Landkreis Osterholz, vertreten durch den Landrat, Osterholzer Straße 23, 27711 Osterholz-Scharmbeck
– Antragsgegner –

hat die 8. Kammer des Sozialgerichts Stade am 14. März 2014 durch den Direktor am Sozialgericht C. beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 28. Januar 2014 gegen den Sanktionsbescheid vom 14. Januar 2014 wird angeordnet.

Der Antragsgegner hat die notwendigen Auslagen der Antragstellerin zu erstatten.

Gründe

1.
Die Antragstellerin steht seit Jahren in laufendem Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. Seit 2009 hat sie nach dem Vorbringen des Antragsgegners für inzwischen über 600 Tage ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt.

Nachdem der Antragsgegner der Antragstellerin mit Bescheiden vom 29. Juli, 19. August und 2. September 2013 Grundsicherungsleistungen für die Monate August 2013 bis Januar 2014 gewährt hatte, bestellte dieser die Antragstellerin zu einer persönlichen Vorsprache am 10. Dezember 2013 um 9:30 Uhr. Hierzu sollte die Antragstellerin einen ausgefüllten Fragebogen zur Anforderung eines amtsärztlichen Gutachtens beim Gesundheitsamt mitbringen. Das Schreiben enthielt folgenden Hinweis:

„..Können Sie den Termin aus Krankheitsgründen nicht wahrnehmen, müssen Sie mich ebenfalls unverzüglich informieren und spätestens vor Ablauf des dritten Kalendertages nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Bescheinigung bei der X  vorlegen (§ 56 SGB II) Da Sie bereits die Termine am 22.10.2013 und 15.11.2013 bei der X aus Krankheitsgründen nicht wahrgenommen haben, mache ich Sie darauf aufmerksam, dass bei einer erneuten Krankmeldung eine herkömmliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch den Hausarzt nicht mehr ausreichend ist und ich einen wichtigen Grund zur Vermeidung einer Sanktion nur noch dann anerkennen kann, wenn Sie eine glaubhafte ärztliche Bescheinigung darüber vorlegen, dass es Ihnen aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich war, den o.g. Termin wahrzunehmen…“

Darüber hinaus enthält das Schreiben einen Hinweis auf § 32 SGB II, wonach das Arbeitslosengeld II um 10 % gemindert kann, weist der Leistungsberechtigte keinen wichtigen Grund für ein Nichterscheinen nach.

Zwischen dem 9. und 10. Dezember 2013 reichte die Antragstellerin eine Arbeitsunfähigkeitsfolgebescheinigung für die Zeit vom 9. Dezember 2013 bis 9. Januar 2014 bei dem Antragsgegner ein. Den Gesprächstermin am 10. Dezember 2013 nahm die Antragstellerin nicht wahr. Mit Schreiben vom 11. Dezember 2013 wurde sie zur beabsichtigten Sanktion angehört. Die Antragstellerin brachte hierzu vor, der Antragsgegner möge sein Anliegen nochmal so formulieren, dass sie es verstehe. Nachdem der Antragsgegner am 9. Januar 2014 einen Bewilligungsbescheid für den Zeitraum Februar bis Juli 2014 erlassen hatte, minderte er mit Sanktionsbescheid vom 14. Januar 2014 das Arbeitslosengeld der Antragstellerin in Höhe von 10 % ihres Regelbedarfs für die Zeit von Februar bis April 2014.

Über den Widerspruch vom 28. Januar 2014 gegen den Sanktionsbescheid vom 14. Januar 2014 ist bisher noch nicht entschieden worden.

Am 5. Februar 2014 hat sich die Antragstellerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes an das Sozialgericht Stade gewandt und trägt im Wesentlichen vor, der Sanktionsbescheid vom 14. Januar 2014 sei schon deswegen rechtswidrig, weil sie eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den 10. Dezember 2013 vorgelegt habe. Das Attest stelle einen wichtigen Grund dar im Sinne des § 32 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Zudem sei die Rechtsfolgenbelehrung nicht ordnungsgemäß erfolgt. Sie sei weder konkret, noch verständlich, richtig oder gar vollständig gewesen.

Die Antragstellerin beantragt aus ihrem schriftlichen Vorbringen heraus sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 28. Januar 2014 gegen den Bescheid vom 14. Januar 2014 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Das erkennende Gericht hat den behandelnden Arzt der Antragstellerin, den Psychiater Dr. K., um Übersendung einer ärztlichen Stellungnahme ersucht. Die Stellungnahme des Dr. K. vom 7. März 2014 ging bei dem Gericht am 12. März 2014 ein.

Wegen des Sachverhaltes im Einzelnen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet. Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 14. Januar 2014 hat gem. § 39 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG aufschiebende Wirkung.

Gem. § 86 b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung eines Widerspruches gegen einen Verwaltungsakt anordnen. Das Gericht entscheidet auf Grund einer Interessenabwägung.

Im Falle, dass die aufschiebende Wirkung gem. § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG auf Grund der Festlegung im SGB II entfällt, ist dem Gesetz ein Regelausnahmeverhältnis im Hinblick auf den Suspensiveffekt eines Rechtsbehelfs zu entnehmen, da der Gesetzgeber die sofortige Vollziehung zunächst einmal angeordnet hat. Hiervon abweichend ist die aufschiebende Wirkung durch das Gericht auf Antrag anzuordnen, wenn hieran ein das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt belastenden feststellbar ist. Bei den Abwägungen kommt den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens große Bedeutung zu. Bestehen Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht, wird eine aufschiebende Wirkung regelmäßig nicht angeordnet. Ist ein Verwaltungsakt hingegen offenbar rechtswidrig und verletzt den Betroffenen in eigenen Rechten, wird regelmäßig das öffentliche Interesse an einer vorläufigen Vollziehbarkeit hinter dem Interesse des Betroffenen zurückstehen. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Grund und an die Dringlichkeit einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung im Lichte der grundrechtlichen Belange der Antragstellerin zu beurteilen.

Das erkennende Gericht geht nach summarischer Prüfung davon aus, dass sich in einem Hauptsacheverfahren der hier streitbefangene Bescheid im Ergebnis mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig herausstellt, weswegen das Vollzugsinteresse hinter das Interesse der Antragstellerin zurücktritt, für den Zeitraum Februar bis April 2014 sanktionsfreie Grundsicherungsleistungen zu erhalten.

Nach § 32 SGB II mindert sich das Arbeitslosengeld II, wenn der Leistungsberechtigte trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis sich weigert, einer Aufforderung des zuständigen Trägers, sich bei ihm zu melden, nicht nachkommt, ohne einen wichtigen Grund dafür darzulegen und nachzuweisen. Wichtige Gründe im Sinne des § 32 Abs. I SGB II können alle Umstände des Einzelfalls sein, die unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Hilfebedürftigen in Abwägung mit etwa entgegenstehenden Belangen der Allgemeinheit das Verhalten des Hilfebedürftigen rechtfertigen. Ob dies der Fall ist, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der gerichtlichen Kontrolle.

Ein wichtiger Grund liegt allgemein vor, wenn dem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten ein Erscheinen unmöglich ist oder so erschwert wird, dass ein anderes Verhalten bei einer Abwägung seiner Interessen gegenüber den Interessen der Allgemeinheit unzumutbar erscheint. Die Beweislast hierfür trägt der Leistungsempfänger. Bei einer Erkrankung kommt es darauf an, ob der Betroffene krankheitsbedingt daran gehindert war, den Meldetermin wahrzunehmen. Als Nachweis für die Unfähigkeit, aus gesundheitlichen Gründen beim Leistungsträger zu erscheinen, kommt regelmäßig die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Betracht. Arbeitsunfähigkeit ist jedoch nicht immer gleichbedeutend mit einer krankheitsbedingten Unfähigkeit, zu einem Meldetermin zu erscheinen. Da es sich bei dem Begriff der Arbeitsunfähigkeit zudem um einen Rechtsbegriff handelt, dessen Voraussetzungen anhand ärztlich erhobener Befunde – ggf. auch durch eine expost-Beurteilung – festzustellen sind (BSG, Urteil vom 26. Februar 1992, Az. 1/3 RK 13/90 in: juris.de), besteht im Streitfall schon keine Bindung an die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Daher ist von den Sozialgerichten zu überprüfen, ob der Leistungsempfänger den Meldetermin aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrnehmen konnte (BSG, Urteil vom 09.11.2010, Az. B 4 AS 27/10 R in: juris.de).

Ausgehend davon, dass der Antragsgegner aufgrund des Verhaltens der Antragstellerin in der Vergangenheit auch aus Sicht des Gerichts mit guten Gründen Zweifel am Interesse der Antragstellerin an einer zielführenden Zusammenarbeit haben musste, war es vorliegend zulässig und auch notwendig, mit der Einladung darauf hinzuweisen, dass die Antragstellerin eine glaubhafte ärztliche Bescheinigung vorzulegen hat (vgl. dazu Bayerisches LSG, Urteil vom 29. März 2012, Az. L 7 AS 967/11 in: juris.de). Allerdings kann der Nachweis später auch mit anderen Beweismitteln geführt werden, was vorliegend geschehen ist.

Das erkennende Gericht geht nach Auswertung der ärztlichen Stellungnahme des Dr. K. vom 12. März 2014 davon aus, dass es der Antragstellerin im hier streitbefangenen Zeitraum – ab 9. Dezember 2013 – aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht möglich gewesen ist, den Termin am 10. Dezember 2013 persönlich wahrzunehmen. Ausweislich des ärztlichen Berichts leidet die Antragstellerin seit 15. August 2013 unter einer chronifizierten Depression und Angsterkrankung, was sich u.a. in Selbstmordgedanken äußert. Eine Besserung bzw. Rückbildung bleibt abzuwarten und kann 6 bis 12 Monate dauern. Bei dieser Erkrankung ist es nicht ausgeschlossen, dass in vergleichbarer Situation ein Arbeitnehmer der Arbeit fernbleibt.

Ob und inwieweit sich diese Erkrankung auf die verbliebene (Rest-) Leistungsfähigkeit der Antragstellerin insgesamt auswirkt, braucht das Gericht an dieser Stelle nicht weiter prüfen.

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gem. § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG unanfechtbar.

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