Sozialgericht Bremen, Beschluss vom 15.11.2013 – S 16 AS 2104/13 ER

Zum Anspruch auf höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, in dem Ermittlungen zur maßgeblichen Referenzmiete nicht durchgeführt werden können, sind vorerst die Bruttokaltmiete bis zur Höhe des Tabellenwerts nach § 12 WoGG, dieser erhöht um einen Sicherheitszuschlag von 10%, zu übernehmen

BESCHLUSS

in dem Rechtsstreit

1, S. V., Bremen,
2. A. V., Bremen,
3. R.-A. V., vertreten durch A. V. und Frau S. V., Bremen,
4. V. N. V., vertreten durch A. V. und Frau S. V., Bremen,
5. L. M. V., vertreten durch A. V. und Frau S. V., Bremen,
Antragsteller,

Prozessbevollmächtigte:
zu 1-5: Rechtsanwälte Beier & Beier,
Gröpelinger Heerstraße 387, 28239 Bremen, Az.: – F/2013/021 –

gegen

Jobcenter Bremen, vertreten durch den Geschäftsführer,
Doventorsteinweg 48 – 52, 28195 Bremen, Az.: –
Antragsgegner,

hat die 16. Kammer des Sozialgerichts Bremen am 15. November 2013 durch ihre Vorsitzende, Richterin L., beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den  Antragstellern für die Zeit vom 01. November 2013 bis zum 31. Januar 2014, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II unter Berücksichtigung eines Bedarfs für die Bruttokaltmiete in Höhe von 756,80 Euro zuzüglich eines. Bedarfs für die Heizkosten in Höhe von 100,00 monatlich zu bewilligen.

Die Leistungsgewährung erfolgt vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller.

GRÜNDE

I.

Die Beteiligten streiten sich im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung höherer Leistungen für Unterkunft und Heizung im Rahmen der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II.

Die Antragstellerin zu 1) und der Antragsteller zu 2) sind miteinander verheiratet und Eltern von vier Kindern. Sie bilden mit drei der vier Kindern eine Bedarfsgemeinschaft: Mit der im Jahr 2004 geborenen Antragstellerin zu 3), dem im Jahr 2006 geborenen Antragsteller zu 4) und der im Jahr 2008 geborenen Antragstellerin zu 5). Sie beziehen laufend Leistungen nach dem SGB II. Die älteste, im Jahr 1997 geborene, Tochter N. S. S., lebt mit ihrem Kind in einen Mutter-Kind-Heim in Bremen. Sie besucht die Antragsteller zu 1) bis regelmäßig ein Mal in der Woche.

Die Antragsteller lebten zunächst in der X-Straße in Bremen. Noch im Jahr 2011 informierte der Vermieter die Antragsteller über den beabsichtigten Verkauf der Wohnung und legte den Antragstellern nahe, sich, zu Ende März 2013 eine neue Wohnung zu suchen, da der neue Eigentümer die Wohnung selbst beziehen wolle. Die Antragsteller suchten daraufhin intensiv nach einer neuen Wohnung. Die Suche gestaltete sich insbesondere wegen eines negativen Schufaeintrags des Antragstellers zu 2) besonders schwierig. Am 1. April 209 wurde die Wohnung verkauft.

Am gleichen Tag bezogen die Antragsteller – ohne Zustimmung des Antragsgegners – die Wohnung in der X-Straße in Bremen. Die Wohnfläche beträgt 150 Quadratmeter. Als Bruttokaltmiete zahlen die Antragsteller 932,50 Euro (802,50 Euro als Grundmiete zuzüglich 130,00 Euro für Nebenkosten). Die monatlichen Kosten für Wasser/ Abwasser belaufen sich auf 80,00 Euro. Die Kosten für Erdgas betragen 100,00 Euro monatlich.

Mit Bescheid vom 15. Juli 2013 bewilligte der Antragsgegner vorläufig Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01. November 2013 bis zum 31, Januar 2014. Dabei berücksichtigte der Antragsgegner eine Bruttokaltmiete in Höhe von 688,00 Euro, Dies entspräche der Mietobergrenze für einen 5-Personen-Haushalt. Hiergegen legten die anwaltlich vertretenen Antragsteller am 22. Juli 2013 Widerspruch ein. Die Bruttokaltmiete sei mit einem sogenannten Sicherheitszuschlag in Höhe von 10 % zu erhöhen. Ferner sei zu beachten, dass wegen des wöchentlichen Besuchs der nicht im Haushalt der Antragsteller lebenden Tochter der Antragsteller zu 1) und 2) einer erhöhter Platzbedarf zu berücksichtigen sei. Die Unterkunftskosten seien daher anhand eines 6-Personen-Haushalts zu berechnen. Den Widerspruch wies der Antragsgegner mit Bescheid vom 08. August 2013 zurück.

Die Antragsteller haben am 29. Oktober 2013 den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie wiederholen im Wesentlichen den Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren.

Die Antragsteller beantragen nach Lage der Akten,

den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig ab Antragseingang bei Gericht, ggf. für 8 Monate, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Die Mietobergrenze für die Bruttokaltmiete betrage in Bremen gemäß § 12 WoGG für einen 5-Personen-Haushalt unter Zugrundelegung der Mietstufe IV 688,00 Euro. Ein 10 %iger Zuschlag zu den Werten des WoGG seien in Bremen — auch im Verhältnis zu Wohngeldberechtigten — nicht gerechtfertigt. Die Berücksichtigung der Tochter bei der Beurteilung der Angemessenheit der Unterkunft könne erst bei einem Aufenthalt von 120 Tagen im Jahr und mehr bei dem umgangsberechtigten Elternteil erfolgen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Rechtsstreites wird auf den Inhalt der Leistungs- und der Gerichtsakte verwiesen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg. Er ist nach § 86 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, zulässig und begründet.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in  Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgesetzbuch (SGG) zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (das heißt die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) als auch ein Anordnungsanspruch (das heißt die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruches) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG 1. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung — ZPO).

Nach diesen Grundsätzen liegen sowohl ein Anordnungsanspruch (unter 1.) als auch ein Anordnungsgrund (unter 2.) vor.

1.

Der Anordnungsanspruch ist zu bejahen. Die Antragsteller haben einen Anspruch auf Übernahme zusätzlicher Leistungen für die Unterkunft in Höhe von 88,80 Euro monatlich (unter a.) sowie der Kosten der Heizung in Höhe von 100,00 Euro monatlich (unter b.) glaubhaft gemacht.

a.

Der Anspruch auf Übernahme der Unterkunftskosten ergibt sich aus § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Danach werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen führt in seinem Beschluss vom 10. Mai 2011 (L 15 AS 44/11 B ER) aus:

„Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig, dass für die Stadt Bremen ein den Anforderungen des BSG genügendes sog. schlüssiges Konzept zur Ermittlung der angemessenen Unterkunftskosten im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II nicht vorliegt (vgl. hierzu ausführlich die die Beteiligten betreffenden Entscheidungen des OVG Bremen vom 18.02.2009 – S2 A 317/06 -, beim BSG anhängig unter dem Az. B 14 AS 132/10 R, und des SG Bremen vom 22.01.2009 — S 21 AS 1/09 ER). Hiervon gehen insbesondere auch die aktuellen Verwaltungsanweisungen des Antragsgegners aus, indem sie auf die Tabellenwerte nach dem WoGG zurückgreifen. Nach ständiger Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG (vgl. zuletzt Urteile vom 17.12.2009 B 4 AS 50/09 R – und vom 19.10.2010 – B 14 AS 15/09 R -) sind indes im Falle des Fehlens lokaler Erkenntnismöglichkeiten grundsätzlich die tatsächlichen Aufwendungen des Hilfebedürftigen zu übernehmen. Die Heranziehung der Tabellenwerte nach dem WoGG dient dabei lediglich dazu, die zu übernehmenden tatsächlichen Aufwendungen nach „oben“ zu begrenzen, um zu verhindern, dass per se unangemessene Mieten durch den Steuerzahler finanziert werden. Die Heranziehung der Tabellenwerte ersetzt mithin nicht die für den Vergleichsraum und den konkreten Zeitraum festzustellende Referenzmiete. Dabei ist der jeweilige Tabellenwert, mithin auch der aktuelle Wert nach § 12 WoGG, im Interesse des Schutzes des elementaren Bedürfnisses des Hilfebedürftigen auf Sicherung des Wohnraums um einen Sicherheitszuschlag zu erhöhen. Denn es kann beim Fehlen eines schlüssigen Konzepts nicht mit Sicherheit beurteilt werden, wie hoch tatsächlich die angemessene Referenzmiete ist (vgl. BSG-Urteil vorn 17.12.2009 B 4 AS 50/09 R RdNr. 27). Dabei ist das BSG in der soeben genannten Entscheidung (RdNr. 22) ausdrücklich Überlegungen entgegengetreten, die vorliegend der Antragsgegner und auch das SG angestellt haben und die darauf abzielen, anstelle eines schlüssigen Konzepts eine „Gegenprobe“ anzustellen, ob es möglich ist, innerhalb eines Vergleichraums Wohnungen bis zur Höhe der Tabellenwerte anzumieten. Es ist vielmehr nach der Rspr. des BSG grundsätzlich ein planmäßiges Vorgehen des Grundsicherungsträgers im Sinne der systematischen Ermittlung und Bewertung der erforderlichen Tatsachen für sämtliche Anwendungsfälle im maßgeblichen Vergleichsraum erforderlich. Hieran fehlt es hier. Für das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, in dem Ermittlungen zur maßgeblichen Referenzmiete nicht durchgeführt werden können, bedeutet dies, dass vorerst die Bruttokaltmiete bis zur Höhe des Tabellenwerts nach § 12 WoGG, dieser erhöht um einen Sicherheitszuschlag von 10%, zu übernehmen sind (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, 11. Senat, Beschluss vom 13.09.2010 — L 11 AS 1016/10 B ER).“

Diesen Ausführungen schließt sich das Gericht an. Insbesondere erachtet das die Regelung des § 22 Abs.1 Satz 1 SGB II als verfassungsgemäß. Weitere Ausführungen hierzu dürften den im vorliegenden Eilverfahren zu berücksichtigenden Rahmen sprengen.

Nach vorgenannten Grundsätzen beläuft sich die Höchstgrenze danach auf 756,80 Euro (Höchstgrenze nach § 12 WoGG bei fünf Haushaltsmitgliedern in der maßgeblichen Mietenstufe IV = 888,00 Euro x 110 %). Das Gericht vertritt dabei — entgegen der Auffassung der Antragsgegner – dass vorliegend auf einen 5- und nicht einen 6-Personen-Haushalt abzustellen ist.

Die Frage, auf wieviele Personen in einem Haushalt abzustellen ist, ist bei der Angemessenheit der Aufwendungen nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II bei dem Aspekt der angemessenen Wohnfläche zu berücksichtigen. Maßgeblich ist hier die Zahl der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft und nicht die Zahl der Bewohner, und zwar auch dann, wenn alle Bewohner einer Familie angehören (vgl. m.w.N.: Berlit, In Münder, SGB II, 4. Auflage, 2011, Rn. 43 zu § 22). Nach diesen Grundsätzen ist die in dem Mutter-Kind-Heim wohnende Tochter der Antragsteller zu 1) und 2) nicht zu berücksichtigen. Diese bildet mit ihrem Kind eine eigene Bedarfsgemeinschaft, vgl. § 7 Abs.3 Nr. 4 SGB II.

Auch kommt das Gericht unter etwaiger Berücksichtigung eines besonderen Raumbedarfs zu keinem anderen Ergebnis. Grundsätzlich ist ein besonderer Raumbedarf möglich für spezielle Situationen, beispielsweise der Betreuung eines Kindes, das nicht nur vorübergehend auswärts untergebracht ist, sich aber an den Wochenenden und in den Ferien bei den Eltern aufhält (vgl. SG Berlin, Beschluss vom 3. September 2007 — S 37 AS 19604/07 ER).

Allein die Tatsache, dass die Tochter der Antragsteller zu 1) und 2) ein Mal wöchentlich zu Besuch kommt, rechtfertigt nach Auffassung der Kammer ein Abweichen des vorgenannten Grundsatzes nicht, Es ist nicht ersichtlich, wieso sich der Bedarf auf eine weitere Person erhöhen sollte. Es wurde insoweit nicht vorgetragen, dass sich die Tochter der Antragsteller zu 1) und 2) an dem Besuchstage besonders lange, ggf. über Nacht, bei den Antragstellern aufhält oder weitere Zeiträume (Ferien etc.) dort verbringt.

b.

Die Antragsteller haben ferner einen Anspruch auf Übernahme der Heizkosten in Höhe von 100,00 Euro. Dies folgt im Rahmen einer Folgenabwägung. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind die tatsächlichen Aufwendungen für Heizung zu übernehmen, soweit diese angemessen sind. Soweit nicht konkrete Anhaltspunkte für ein unwirtschaftliches und damit unangemessenes Heizverhalten vorliegen, wird die Angemessenheit der Heizkosten, wie sie sich aus den Festsetzungen im Mietvertrag bzw. den Vorauszahlungsfestsetzungen der Energie- bzw. Fernwärmeversorgungsunternehmen ergeben, vermutet (vgl. Berlit, in Münder: Sozialgesetzbuch II, 4. Auflage, 2011, Rn. 95 zu § 22. m.w.N.). Ob hier solche Anhaltspunkte vorliegen, bedarf einer näheren Prüfung, zu der weitere Ermittlungen notwendig sind. Das Gericht ist jedoch der Auffassung, dass diese Frage im Hauptsacheverfahren zu klären ist. Bei einer Gegenüberstellung der Beteiligteninteressen überwiegt vorliegend dasjenige der Antragsteller, da deren existenzsichernden Leistungen betroffen sind und insoweit die Interessen der Allgemeinheit zurückstehen müssen.

2.

Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da sie die streitigen Kosten gegenwärtig aus der Regelleistung aufbringen muss. Dadurch ist das Existenzminimum der Antragsteller gefährdet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

HINWEIS

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 Euro nicht übersteigt und wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr  nicht im Streit sind (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG in Verbindung mit § 144 Abs. 1 SGG).

gez. L. Richterin

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